Italien – Zur Lage der Nation und zur Kritik von Confindustria-Präsidentin Emma Marcegaglia an der Regierung: Italien bewegt sich am Rande eines Abgrundes: Die Institutionen verlieren an Ansehen, die Wirtschaft an Wettbewerbsfähigkeit, die Politik an Glaubwürdigkeit. Die Regierung und ihr angeschlagener Chef scheinen gelähmt, die Opposition eine fragwürdige Alternative.
Rom – Das, was in Italien derzeit politisch passiert, ist ebenso
besorgniserregend wie das, was nicht passiert: Das Land erinnert an ein
Schiff in rauer See, dessen Führungsmannschaft ein Rettungsboot für den
Kapitän bauen soll, statt die Lecks zu stopfen und die Maschinen
flottzumachen. Diesen Vergleich hat – sinngemäß – Emma Marcegaglia
angestellt, die streitbare Präsidentin der Confindustria, des
Dachverbandes der Industrie. Sie und ihre Organisation haben sich von
dieser Mitte-rechts-Regierung einschneidende Maßnahmen erwartet, die
Italien und seine Wirtschaft voranbringen; jetzt sind sie enttäuscht von
dem, was die Exekutive in den letzten zweieinhalb Jahren geleistet hat.
Dabei war von allem Anfang an eine gute Portion Misstrauen gegenüber
Silvio Berlusconi vorhanden. Die italienischen Unternehmerverbände
hatten schon vor den Parlamentswahlen 2006 offene Kritik an der
Wirtschaftspolitik der vorangegangenen fünf Jahre geübt, die – mit
Berlusconi als Herr im Chigi-Palast – von einem schwachen Wachstum und
viel Stillstand geprägt waren. Aber nach zwei Jahren Romano Prodi, der
immer wieder ein Gefangener der mit ihm verbündeten radikalen
Linksparteien war, schien auch den Wirtschaftsverbänden bei den Wahlen
2008 der „Cavaliere“ das kleinere Übel zu sein. Das Wahlergebnis bedeute
dann, das das Land eine Regierung haben werde, die eine breite Mehrheit
hinter sich weiß.
Berlusconi hatte es in der Hand, genau jene Reformen durchzuziehen, die
Italien braucht, um wieder wettbewerbsfähig zu werden. Zu tun gab es
genug: Staatsfinanzen, Justiz, Infrastrukturen, öffentlicher Dienst,
Ausbildung, Renten. Einige Aktionen wurden auch gesetzt, etwa erste
Maßnahmen zur Verbesserung der als ineffizient verschrienen öffentlichen
Verwaltung. Aber dann trat der Regierungschef durch Worte und Taten von
einem Fettnäpfchen ins andere und begann wiederum so zu agieren, dass
der Interessenkonflikt, in dem er sich zwangsläufig bewegt,
offensichtlich schien. Es war ausgerechnet Kammerpräsident Gianfranco
Fini, der dem mächtigen Ministerpräsidenten immer öfter widersprach und
ihn politisch in die Grenzen wies. Der Bruch war unvermeidlich und wurde
im Sommer vollzogen. Nach dem Vertrauensvotum des Parlaments zu seinem
Fünfpunkteprogramm ging Berlusconi wieder an die Arbeit, versuchte aber
sofort unter dem Deckmantel einer (zweifellos notwendigen) Justizreform
das voranzutreiben, was ihn langfristig vor den Nachstellungen der
Gerichte schützt. Die geplante Aussetzung aller Verfahren, in die der
Staatspräsident, der Regierungschef und die Präsidenten der beiden
Kammern des Parlaments verwickelt sind oder werden, und die rückwirkende
Anwendung dieser temporären Immunität haben den Widerspruch von
Staatspräsident Giorgio Napolitano herausgefordert. Zu offensichtlich
ist der Rettungsanker für den Premier, der nach seinem Ausscheiden aus
der Exekutive das Amt des Staatspräsidenten anstrebt und damit für die
nächsten zehn Jahre vor jeder Strafverfolgung geschützt wäre. Lange Zeit
ist es Berlusconi gelungen, das Vorgehen von Richtern und
Staatsanwälten gegen ihn ausschließlich als Versuch der Linken zu
verkaufen, ihn politisch mundtot zu machen und so die Entscheidungen der
Wähler umzustoßen. Inzwischen gesellt sich zu verschiedenen Anklagen
und Untersuchungen in Zusammenhang mit ungesetzlichen Handlungen von
Gesellschaften des Ministerpräsidenten auch ein mögliches Fehlverhalten
im Privatleben Berlusconis. Seine erklärte Liebe zu den Frauen sehen die
Italiener dem 74-Jährigen nach, auch seine rauschenden Partys in seinen
vielen Villen mit Damen, die Publicity suchen, Karriere machen wollen
oder gut bezahlt bzw. mit teuren Geschenken bedacht werden. Der zweite
Fall von Verwicklung einer Minderjährigen, diesmal einer 17-jährigen
Marokkanerin, bringt Berlusconi in Erklärungsnot, auch wenn „gar nichts
war“ und der Gescholtene seinen Lebensstil mit dem Hinweis verteidigte,
er müsse Übermenschliches leisten und brauche halt ab und zu einen
entspannenden Abend, wobei „es besser ist, ein Frauenheld zu sein als
schwul“.
Inzwischen kommt Kritik auch aus dem eigenen Lager, denn im Raum steht
auch eine angebliche Einwirkung Berlusconis auf die Behörden, die das
Mädchen wegen Dienstahls dingfest gemacht hatten. Einzelne
PdL-Exponenten fürchten um das Ansehen der Institutionen, nicht nur der
Politik. Und schwer wiegt auch, dass insbesondere die Confindustria
offen auf Konfrontationskurs geht. Emma Marcegaglia prangert die
Untätigkeit der Regierung offen an, zumal Italiens Wirtschaft schwach
wächst, weil die Rahmenbedingungen für die Unternehmen längst nicht mehr
stimmen.
Nur Silvio Berlusconi verkündet unverdrossen, dass es aufwärts geht. Dank ihm natürlich.
Robert Weißensteiner, SWZ
Quelle: Südtiroler Wirtschaftszeitung, Ausgabe vom 5. November 2010, www.swz.it