Bereits im September vergangenen Jahres ist der zweite Band der auf drei Bände angelegten Schulbuchreihe „Übergänge und Perspektiven – Grundzüge der Landesgeschichte“ erschienen. Eine Diskussion mit Stefan Lechner, einem der vier Autoren des Werkes, hat mir die Gelegenheit geboten, mich mit dem Buch kritisch auseinanderzusetzen. Den Autoren ging es anscheinend vor allem darum, sogenannte „Mythen“ zu zerstören. Dabei sind auch manche unleugbare geschichtliche Tatsachen arg unter die Räder gekommen.
Angeblich soll das in deutscher und italienischer Sprache erschienene
Werk das erste Geschichtsbuch für alle drei Sprachgruppen Südtirols
sein. Dies ist eine unhaltbare Behauptung. Es gibt bereits zahlreiche
Geschichtsbücher, die übersetzt wurden und somit für alle Sprachgruppen
verfügbar sind (die Ladiner werden dabei meist sehr stiefmütterlich
behandelt). Worin besteht also die Einmaligkeit des neuen
Geschichtsbuches? Angeblich haben sich deutsch- und italienischsprachige
Historiker zu einem gemeinsamen deutsch-italienischen Geschichtsbild
durchgerungen. Dieser Anspruch erscheint umso verwegener, als es ja
nicht einmal ein gemeinsames deutsches oder ein gemeinsames
italienisches Geschichtsbild gibt. Und nun soll es plötzlich ein
gemeinsames deutsch-italienisches Geschichtsbild geben? Ein Studium des
Buches zeigt, wie diese „Gemeinsamkeit“ erkauft wurde – durch Verzicht
auf geschichtliche Tatsachen, die durch schwammige Formulierungen und
eine Anhäufung von Banalitäten ersetzt wurden.
„Tirol in der Neuzeit“ ist der Untertitel des zweiten Bandes, der den
Abschnitt vom Anfang des 16. Jahrhunderts bis zum Jahr 1918 behandelt.
Es ist genau der Zeitraum, in dem Tirol von Kufstein bis Borghetto
reichte, was aber die Autoren kaum zur Kenntnis nehmen. Vor allem
Welschtirol wird sträflich vernachlässigt. Im Artikel über den Ersten
Weltkrieg wird gar der wesentliche Anteil der Welschtiroler
Standschützen an der Verteidigung der Heimat gegen die italienische
Aggression vollkommen unterschlagen. Eines wissenschaftlichen Werkes
unwürdig ist die Behauptung, dass die Welschtiroler Soldaten absichtlich
„möglichst weit entfernt der Heimat“ eingesetzt wurden. Offensichtlich
ist es den Autoren nicht bekannt, dass der Krieg 1914 im Osten begann
und die Welschtiroler Soldaten auf diesem Grund dort eingesetzt wurden,
während sie nach dem Kriegseintritt Italiens im Jahr 1915 großteils an
die Südfront verlegt wurden und dort bis zuletzt ausgeharrt haben. Auch
scheinen die Autoren nicht zu wissen, dass mehrere Welschtiroler
Standschützenkompanien als besonders zuverlässig gegen den italienischen
Feind hervorgehoben wurden. Beklagt wird im Buch das Schicksal der
rund 75.000 Welschtiroler, die von Österreich aus den Frontgebieten
evakuiert wurden, aber kein Wort erinnert an das Schicksal der etwa
50.000 Welschtiroler, die von den Italienern evakuiert und wesentlich
schlechter behandelt wurden. Geradezu skandalös ist es, wie das
Schicksal der österreichischen (besonders Süd- und Welschtiroler)
Kriegsgefangenen in Italien verharmlost wird. „Der Großteil der
Kriegsgefangenen wurde im Landesinneren Italiens interniert und in der
Land- und Forstwirtschaft eingesetzt“, heißt es da ganz harmlos. Kein
Wort über die unmenschliche Behandlung der Gefangenen in den
italienischen Kriegsgefangenenlagern, in denen die Todesrate höher war
als in den russischen. „Lieber sechs Jahr in russischer
Kriegsgefangenschaft als zwei Monate in italienischer“, hat ein
Welschtiroler Soldat in sein Tagebuch geschrieben, das derzeit in einer
Ausstellung in Lusern zu sehen ist.
In diesem Zusammenhang wundert es natürlich nicht, dass die Hinrichtung
des Trientner Reichsratsabgeordneten Cesare Battisti, der als Überläufer
auf seine eigenen Landsleute geschossen hatte und von diesen an die
österreichische Militärjustiz ausgeliefert wurde, als Argument für die
italienische Vorstellung von „Österreich als einem Staat der Richter und
Henker“ herangezogen wird. Gerechtigkeitshalber hätte man auch die
vielen italienischen Soldaten erwähnen müssen, die von den Carabinieri
ohne jedes Gerichtsverfahren erschossen wurden, um die Fahnenflucht zu
bekämpfen, während in Österreich fast alle wegen Fahnenflucht
ausgesprochenen Todesurteile in Gefängnisstrafen umgewandelt wurden.
Zu den sogenannten „Mythen“, die auf dem Altar des gemeinsamen
Geschichtsbildes geopfert wurden, gehört auch der Freiheitskampf von
1809, obwohl die Italiener damit eigentlich nichts zu tun haben. „In
den sogenannten ‚Freiheitskämpfen‘ ging es indes nicht um Freiheit,
sondern um Wiederherstellung alten Rechtes“, heißt es schon in der
Einleitung des Buches. Nicht erwähnenswert finden es die Autoren, dass
dieses sogenannte „alte Recht“ unter anderem die Wehrfreiheit,
Steuerfreiheiten, Autonomierechte für Gemeinden und Generalgemeinden
betraf, während der von Bayern überbrachte französische Fortschritt vor
allem in neuen Steuern und eben der Abschaffung dieser Rechte bestand. Ein alter Hut ist die als neu gepriesene Erkenntnis, dass 1809 ein
Stadt-Land-Gegensatz bestand; zudem ist hier zu sehr vereinfacht worden.
Weil es nicht ins Konzept passt, wird verschwiegen, dass Städte wie
etwa Bozen dem Aufstand durchaus gewogen waren, während manche
bäuerliche Täler fernblieben.
Die Liste an Unterlassungen, Verdrehungen und Geschichtsklitterungen
aller Art ließe sich noch beliebig weiterführen. Beunruhigend ist der
Ausblick auf den abschließenden dritten Band, der bald erscheinen soll.
Autor Stefan Lechner ließ durchblicken, dass man im Zuge der Zerstörung
von Mythen auch den Faschismus in einem neuen Licht darstellen werde. „Schließlich bestand der Faschismus nicht nur aus Terror, sondern auch
aus Alltag, in dem man durchaus leben konnte. Und mit dem
Mutter-und-Kind-Hilfswerk wurde sogar etwas sehr Positives getan“, meint
er. Das erinnert an deutsche Neonazis, denen beim Stichwort Hitler vor
allem „Positives“ wie der Bau der deutschen Autobahnen einfällt.
Hartmuth Staffler