Was heißt eigentlich Selbstbestimmung? Und wie stellt sich Eva Klotz, das Urgestein des "Los von Rom"-Gedankens in Südtirols Politlandschaft, diese Selbstbestimmung in der Praxis vor? Ein Gespräch über Wünsche, Hoffnungen, Lügen und die Kraft der Diskussion wurde letzten Freitag in der Südtiroler Wirtschaftszeitung veröffentlicht und wird hier vollinhaltlich wiedergegeben.
SWZ: Frau Klotz, Sie haben vor einiger Zeit angekündigt, dass die Süd Tiroler Freiheit 2013 mit der landesweiten Abstimmung zur Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes starten wird. Was aber heißt ganz konkret Selbstbestimmung?
Eva Klotz: Selbstbestimmung ist der erste Punkt der UNO-Menschenrechtspakte. Völker haben Rechte, und die Südtiroler sind zweifelsfrei ein Teil des Tiroler Volkes, ein Teil, der gegen seinen Willen einem anderen Staat angegliedert wurde. Die Südtiroler sind also mehr als nur eine rein sprachliche Minderheit, wie uns die Mehrheitspartei glauben machen will. Daraus leitet sich das Recht auf Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes ab. Selbstbestimmung bedeutet kein Modell, sondern nur das Recht des Volkes, selbst über seine Zukunft zu entscheiden. Die Süd-Tiroler Freiheit legt sich bewusst auf kein Modell Freistaat, Rückkehr zu Österreich, Vollautonomie -fest.
Die Süd-Tiroler Freiheit weiß also selbst nicht so recht, was für Südtirol gut ist.
Schauen Sie, nicht eine Partei oder eine Person entscheidet über ein Modell, sondern einzig die Mehrheit. Das ist ein grundlegendes Prinzip der Demokratie. Die Selbstbestimmung ist der Weg zu einer politischen Veränderung oder auch nicht. Das muss die Mehrheit entscheiden. Ich kann höchstens sagen, was ich für mich persönlich entscheiden würde.
Läuft die Süd-Tiroler Freiheit nicht Gefahr, mit ihrem vagen Begriff "Selbstbestimmung" den Freiheitlichen und der SVP das Feld zu überlassen, die ihrerseits klar sagen, wie sie sich die Zukunft Südtirols vorstellen die einen mit einer weitreichenden Autonomie innerhalb Italiens, die anderen als eigenen Staat?
Es ist nicht zuletzt eine politische Verantwortung, niemals die Grundlage unseres Schlüsselrechtes zu verlassen, das die Selbstbestimmung ist. Wenn wir alle dem Freistaat das Wort reden und die Rückgliederung zu Österreich als Option ausschließen, dann könnte Österreich seine Rolle als Schutzmacht als erledigt betrachten. Und Italien könnte uns mit dem Argument "Ihr betrachtet euch eh nicht mehr als Tiroler" das Recht auf Selbstbestimmung absprechen. Ich finde es gut, dass verschiedene Modelle beworben werden, weil damit die Diskussion angeregt wird. Aber wir dürfen niemals vergessen, dass uns das Recht auf Selbstbestimmung zusteht, weil wir Tiroler sind.
Welche Option würden Sie persönlich bevorzugen: die Rückgliederung an Österreich oder die Gründung eines unabhängigen Staates Südtirol?
Die erste Option für mich ist die Rückgliederung an Österreich. Wenn für die Mehrheit der Südtiroler das keine Option wäre, dann würde ich mich für einen unabhängigen Staat Südtirol ins Zeug legen. Jede Zukunft ohne Italien ist besser als eine Zukunft mit Italien. Wir sehen es ja täglich, wie Südtirol durch die Zugehörigkeit zu diesem Staat immer tiefer rutscht. Mit einer Steuerautonomie innerhalb Italiens könnten Sie sich nicht anfreunden? Ich war im Landtag die Erste, die Beschlussanträge zur Schul- und Steuerhoheit eingebracht hat. Aber dieser Staat hält sich ja an gar nichts, weshalb eine Autonomie, egal wie sie aussieht, für mich nicht mehr infrage kommt. Zahlreiche Staatsgesetze wurden wegen Verletzung der Autonomie vor dem Verfassungsgerichtshof angefochten, aber ich würde mich schwer wundern, wenn das Gericht pro Südtirol entscheiden würde. Selbst im Autonomiestatut ist festgeschrieben, dass stets die "nationalen Interessen" zu berücksichtigen sind. Diese Formulierung ist derart dehnbar, dass Südtirol immer am kürzeren Hebel sitzt.
Was würden Sie sagen, wenn Rom dem Vorschlag von Landesrat Thomas Widmann zustimmen würde: Südtirol übernimmt seinen Anteil an den Staatsschulden und erhält im Gegenzug die Steuerhoheit?
Widmanns Vorschlag ist ein Etikettenschwindel erster Güte. Wir würden viel Geld nach Rom überweisen, ohne eine Garantie zu haben, wie lange der Zentralstaat uns die Steuerhoheit gewährt. Wie gesagt, in diesem Staat ist nichts sicher. Der Druck kommt von den Regionen mit Normalstatut, Südtirol zu einer ganz normalen italienischen Provinz zu machen. Das zeichnet sich einfach ab. Es ist empörend, wenn Landeshauptmann Luis Durnwalder sagt, dass Südtirol mitsparen muss, weil es über die großzügigen Geldzuweisungen die Schulden mitverursacht hat. Ich habe Italiens Schuldenschlamassel sicher nicht mitverschuldet, ich habe meine Steuern immer brav bezahlt! Laut den Aussagen Durnwalders hat Südtirol "mitgepappet", im Wissen, über die Verhältnisse zu leben. Welche Politik hat die SVP da betrieben? Sie hat sich italianisieren lassen.
Es gibt tatsächlich Statistiken, wonach Südtirol in den letzten zwei Jahrzehnten innerhalb Italiens ein Nettoempfänger war.
Italien hat von Südtirol sicher nichts zu bekommen: Rom hat immer einen Teil unseres Steueraufkommens behalten, jahrzehntelang unsere Wasserkraft ausgebeutet, die Südtiroler zahlen mehr Rentenbeiträge ein, als hierzulande ausbezahlt werden, und die Landespolitik hat über das Mailänder Abkommen bereits auf Zuweisungen verzichtet. Wenn Südtirol dem Staat wirklich so auf dem Steuersäckel liegen würde, hätte uns Rom längst ziehen lassen.
Zurück zum geplanten Selbstbestimmungsreferendum. Die Süd-Tiroler Freiheit sagt, es werde 2013 damit "gestartet". Warum "gestartet"? Ein Referendum wird normalerweise an einem oder zwei Tagen abgehandelt.
Nach dem Ahrntaler Vorbild, wo sich unter widrigsten Umständen 35 Prozent der Bevölkerung beteiligt haben, werden wir in den verschiedenen Gemeinden über einen längeren Zeitraum die Abstimmung ermöglichen samt begleitender mehrmonatiger Sensibilisierung.
Sprechen Sie auch die italienischsprachigen Südtiroler an? Oder anders: Wird es die Abstimmung beispielsweise auch in Bozen und Leifers geben?
Selbstverständlich. In jeder Gemeinde, in der es uns gelingt, eine Abstimmung zu organisieren, werden wir das tun. Ob das in allen 116 Gemeinden erfolgt, kann ich heute aber nicht sagen.
Und wann würden Sie sich legitimiert fühlen, für Südtirol die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts einzufordern: wenn die Mehrheit der Abstimmenden oder die Mehrheit der Wahlberechtigten dafür stimmt?
Die Mehrheit der Abstimmenden natürlich.
Gut, gehen wir einmal davon aus, dass die Mehrheit der Abstimmenden die Meinung kundtut, dass Südtirol das Selbstbestimmungsrecht einfordern solle. Was dann? Sollen dann an der Salurner Klause die Schützen aufmarschieren? Oder hoffen Sie, dass Rom Südtirol ziehen lässt?
Nein, wir machen uns keine Illusionen. Wegen einer solchen gesetzlich nicht verbindlichen Abstimmung lässt uns Rom sicher nicht ziehen. Mit der Abstimmung wollen wir die notwendige Diskussion anstoßen, zur Willensbildung beitragen und eine demokratische Einschulung betreiben. Wenn sich die Leute mit der Frage auseinandersetzen, dann wird die Option "Verbleib bei Italien" schrittweise Anhänger verlieren davon bin ich überzeugt. Der politische Druck wird wachsen, vielleicht kann sich der Landtag dann zu einem Beschluss durchringen, wonach beispielsweise innerhalb 2015 das Selbstbestimmungsrecht ausgeübt wird, das heißt, eine Abstimmung vorgenommen wird wie in Schottland im Herbst 2014. Die SVP müsste sich in einem solchen Fall dem Thema stellen. Die SVP spricht ja immer davon, dass die Autonomie der einzig realistische Weg ist. So ein Schmarren! Wenn selbst in einem Land wie Großbritannien die Schotten über ihre Unabhängigkeit abstimmen dürfen, warum sollte es dann in Südtirol nicht möglich sein?
Okay, es wird abgestimmt und die Mehrheit wünscht sich eine Rückkehr zu Österreich. Wer sagt, dass Österreich uns will?
Das steht außer Diskussion. Österreich kann als Schutzmacht gar nicht anders, als den mehrheitlichen Willen der Südtiroler zu akzeptieren.
Ein anderes Szenario: Die Südtiroler entscheiden, dass sie sich einen unabhängigen Staat wünschen. Wäre ein solches Südtirol finanziell überlebensfähig?
Warum sollte es das nicht sein. In Südtirol werden 6,6 Milliarden Euro an Steuern eingehoben, der Landeshaushalt umfasst hingegen etwa 5 Milliarden. Wenn wir eine oder gar 1,5 Milliarden dazubekommen, dann können wir die paar Aufgaben, die derzeit der Staat hierzulande erfüllt, locker finanzieren. Abgesehen davon könnten wir endlich den Papierdschungel vereinfachen, das System verschlanken und somit kostengünstiger wirtschaften. Und die Steuermoral wäre kein Thema mehr: Je kleiner ein Staat, umso ehrlicher werden die Steuern gezahlt.
Haben Sie keine Angst, dass ein unabhängiger Staat Südtirol vorübergehend aus der EU ausscheiden und eine eigene Währung drucken müsste, um dann ein EU-Aufnahme ansuchen zu stellen?
Noch einmal: Entscheidend ist der Mehrheitswille. Punkt. Im Falle einer politischen Neuausrichtung wird es sicher Übergangsregelungen geben müssen. Aber es gibt in Südtirol genügend kluge Köpfe, um eine politische Veränderung technisch zu bewältigen, wenn nur der Wille da ist. Als in Deutschland die Mauer fiel, hat ja auch niemand nach der technischen Machbarkeit gefragt man hat sich hingesetzt und an der Wiedervereinigung gearbeitet. Im Übrigen gäbe es international genügend Beispiele, von denen wir lernen könnten.
Apropos Mehrheitswille. Finden Sie nicht, dass allein schon das Kräfteverhältnis im Landtag -18 Sitze für die SVP, zwei Sitze für die Süd-Tiroler Freiheit den Mehrheitswillen der Südtiroler eindeutig zum Ausdruck bringt?
Nein, Landtagswahlen sind kein Indikator für die Stimmung der Bevölkerung in dieser Frage.
Aber wenn die Südtiroler sich mehrheitlich eine Rückkehr zu Österreich oder einen Freistaat wünschen würden, dann müsste die Süd-Tiroler Freiheit doch mehr Zulauf haben.
Wenn die Mehrheitspartei ständig predigt, dass eine Zukunft ohne Italien eine Illusion ist, dann darf man sich nicht wundern, wenn es die Bevölkerung irgendwann glaubt. Erst wenn ein Termin für eine Abstimmung über verschiedene Zukunftsszenarien steht, wird sich die breite Bevölkerung ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen. Die Leute würden sich Gedanken machen, was für sie und ihre Kinder das Beste ist. Ich denke, dass dann selbst viele Italiener im Land zum Schluss kommen würden, dass die Zukunft bei Italien die schlechteste aller Varianten ist.
Interview: Christian Pfeifer, Südtiroler Wirtschaftszeitung
(Quelle: http://www.swz.it/de/home.html)