Am 13. August 1961 wurde die Berliner Mauer errichtet. Obgleich die rund 1.400 Kilometer lange innerdeutsche Grenze eine ganz andere Tragweite hatte, galt die Berliner Mauer weltweit als das Symbol für den Eisernen Vorhang und untermauerte wortwörtlich die Teilung Deutschlands, so wie es den sozialistischen Regimes am besten ins politische Kalkül paßte.
Ich erinnere mich noch sehr genau an jenen Sommertag vor nunmehr 52 Jahren. Ich war noch ein Kind. Meine Tante und mein Onkel hatten mich zu einem Besuch bei meinen Großeltern in West-Berlin mitgenommen. Ich werde dieses Bild nie vergessen, wie sie starr vor Entsetzten vor dem Fernsehapparat standen und die Nachricht der Schließung der Grenze vernahmen. Durch ein Labyrinth von stillgelegten U-Bahn-Tunneln und auf einem bereitgestellten Güterzug ging es dann zurück in meinen Heimatort im Osten. Es herrschten chaotische Verhältnisse, die man sich mit dem Wissen von heute fast nicht mehr vorstellen kann …
Niemand wußte, ob man sich jemals wiedersehen wurde. Es dauerte in der Tat 28 Monate, bis die West-Berliner in der Weihnachtzeit nach Ost-Berlin einreisen durften. Ein Passierschein-Abkommen zwischen dem West-Berliner Senat und der DDR gestattete dies. Von nun an durfte man sich in unregelmäßigen Abständen sehen, doch hing vieles von der damaligen politischen Ist-Situation ab. Erst seit dem fernen Jahre 1972, dank des Viermächte-Abkommens über Berlin, wurde eine regelmäßige Einreise der West-Berliner in die DDR und deren Hauptstadt Ost-Berlin möglich.
Seit 1960 gab es den Schießbefehl für die Grenzsoldaten an der deutsch-deutschen Grenze. Bis zum Fall der Mauer 1989 sind beim „ungesetzlichen Grenzübertritt“ 136 bis 245 Menschen umgekommen. Genaue Zahlen weiß man bis heute nicht. Aber auch die „normalen“ Kontrollen an den Grenzübergängen, die zum Teil schikanös waren, haben möglicherweise manch zartbesaitete Bundesbürger das Leben gekostet.
Und dennoch einte die einstige Berliner Mauer und die noch existierende Brennergrenze eins: Beides sind Unrechtsgrenzen. Sowohl bei den Ostdeutschen als auch bei den Südtirolern hat die Teilung des Volkes sich tief in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Beide haben oder hatten das Gefühl, daß sie alleine für die Kriegsfolgen büßen müssen. Während die Ost-Berliner und somit auch die Ostdeutschen viele Jahre lang Reparationen an den großen sozialistischen Bruder, die Sowjetunion berappen mussten, hatte die Bundesrepublik Deutschland die Reparationsleistungen eingestellt. Während die Ostdeutschen unter der russischen Besatzung quasi als Satellitenstaat und demnach unter einer kommunistischen Diktatur zu leiden hatten, konnten die Westdeutschen humanere Besatzer aufweisen und lebten in einer Demokratie. Mit zunehmendem Wohlstand im „Westen“ nahm auch das Interesse an den Schwestern und Brüdern im „Osten“ ab. Wenn bundesdeutsche Politiker von den „armen Brüdern und Schwestern im Osten“ sprachen, dann war es oftmals keineswegs ehrlich gemeint. Eine andere Spezies von Politikern wie etwa Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder (beide SPD) rückten noch 1988/89, als sich in der DDR der politische Widerstand formierte, die Idee einer Wiedervereinigung ins Reich der Phantasie. Schröder, der zwischen 1998 und 2005 als Bundeskanzler einer rot-grünen Regierung vorstand, sagte in der BILD-Zeitung vom 12. Juni 1989: „Nach 40 Jahren Bundesrepublik sollte man eine neue Generation in Deutschland nicht über die Chancen einer Wiedervereinigung belügen. Es gibt sie nicht.“
Doch wie ist es bei den Südtirolern? Ich würde sagen: ähnlich! Auch sie hatten unter dem Faschismus, der ab 1922 in Italien das Sagen hatte, sehr zu leiden. Trotz Abschluß des Pariser Abkommens aus dem Jahre 1946 wurde Südtirol weiterhin wie eine Kolonie behandelt und der Vertrag ignoriert. Hinzu kam die Renaissance des italienischen Nationalismus, der besonders im Land zwischen dem Brennerpaß und der Salurner Klause sein Exerzierfeld sieht. Mit zunehmendem Wohlstand der Österreicher nahm auch die Teilnahme am Schicksal der Südtiroler ab. Ist daher Südtirol wirklich noch eine „Herzensangelegenheit“?
Zurück zur DDR. Trotz sozialistischer Uniformität, Mangel- und Vetternwirtschaft erarbeiteten sich die Menschen dort einen Lebensstandard, der in der sozialistischen Wirtschaftszone am höchsten war. In Südtirol war es die „Feuernacht“ im Juni 1961 und ihre Folgen, die nach langem und zähem Ringen Rom eine Autonomie abringen ließ. Trotzdem und dank ihres Fleißes und obwohl die italienische Wirtschaft nicht gerade rosig war, erreichten die Südtiroler in Italien einen beneidenswerten Wohlstand.
Doch blicken wir in die Gegenwart. Mit dem massiven Abbau der Autonomie durch den technokratischen Ministerpräsidenten Mario Monti bewahrheitete sich einmal mehr eine Warnung des österreichischen Völkerrechtlers und Menschenrechtsexperten Prof. Felix Ermacora, die die Südtiroler Volkspartei (SVP) und die österreichische Regierung mit der Streitbeilegung im Juni 1992 in den Wind schlugen. Erinnert sei an die Begebenheit, als SVP-Obmann Roland Riz auf dem Parteikongreß im gleichen Jahr einen Zettel in Meran herauszog und behauptete: „Hier ist sie, die internationale Verankerung der Autonomie!“ Erinnert sei auch an das „Stenographische Protokoll 72. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich XVIII. Gesetzgebungsperiode Freitag, 5. Juni 1992“ Seite 7810. Ermacora, lange Zeit auch Südtirol-Sprecher für die ÖVP im Nationalrat zu Wien, bezeichnete die „Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis“ (AKB) am 04. Juni.1992 gegenüber der Tageszeitung „Der Standard“ als ein „Krebsgeschwür“, das eines Tages die Autonomie zertrümmern kann.
Andreas Khol, langjähriges Mitglied des österreichischen Nationalrates, auch Erster Nationalratspräsident und gebürtiger Südtiroler, sagte einmal, daß die Brennergrenze nur in den Köpfen der Ewiggestrigen existiere. Tatsache ist aber, daß sowohl Süd- als auch Nord- und Osttirol in der EU sind, aber nach wie vor ein gravierender Unterschied herrscht, wo man lebt. Das erkennt man an der politischen Stabilitätslage, ferner bei der Geschichtsaufarbeitung, aber auch bei der immensen Steuerlast Italiens bei kleinen und mittelständischen Unternehmen oder auch der Freizügigkeit bei Klassenfahrten.
Die Südtiroler Autonomie kann nicht mehr als eine Erfolgsgeschichte oder als ein Beispiel Europas für Minderheitenschutz gelten, denn hier wird nur auf den Wohlstand geschielt; der volkstumspolitische Aspekt kommt eindeutig zu kurz. Durch die bestehende „Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis“ ist das Wohl und Weh der Autonomie Südtirols von dem politischen Willen und der Konstellation in Rom abhängig, unabhängig ob Neofaschisten, Nationalisten, Zentralisten, Linke, Rechte oder Gemäßigte am Ruder sind. Kurzum: So sieht weder eine national noch international abgesicherte Autonomie aus!
Die Teilung eines Volkes oder einer Volksgruppe ist meines Erachtens ein Verbrechen und ein Anachronismus zum heutigen Zeitpunkt. Vor mehr als 35 Jahren ließ die bundesdeutsche Delegation in weiser Voraussicht in die KSZE-Schlußakte von Helsinki einen Passus einarbeiten, der besagt, daß Staatsgrenzen auf friedlichem Wege verändert werden. Genau diese Stelle oder vielmehr diese Tatsache könnte für Südtirol von Bedeutung sein. Am 9. November 1989 fiel entgegen der Schröder‘schen Ansicht die Mauer und Deutschland wurde friedlich vereint. Wann fällt die Brennergrenze?
Diese rhetorische Frage ist nicht mehr eine rechtliche, sondern eine politische Frage!
Wolfgang Schimank, Berlin