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„Südtirol – die verhinderte Selbstbestimmung“

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„Südtirol – die verhinderte Selbstbestimmung“

Liebe Leser aus Deutschland, Österreich, Schweiz, Süd- und Welschtirol,
am 13. Oktober 2013 wäre Prof. Felix Ermacora 90 Jahre alt geworden. Er setzte sich als Völkerrechtsexperte sein Leben lang für das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein, insbesondere für das der Südtiroler. Ihm zu Ehren möchte ich an eines seiner vielen Bücher erinnern. Es heißt „Südtirol – die verhinderte Selbstbestimmung“. Das Buch wurde 1991 gedruckt. „Warum ausgerechnet ein so altes Buch?“ mögen Sie sich fragen. -Die bevorstehende, schicksalsträchtige, Landtagswahl und die Befragung der Südtiroler zur Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes auf Initiative der SÜD-TIROLER FREIHEIT haben dieses Thema wieder in das öffentliche Interesse gerückt. –Und wieder sind es die gleichen Kräfte, die die Selbstbestimmungsbewegung verleumden, und ein Referendum am liebsten verhindern möchten.

Es ist schier unglaublich, dass es in Südtirol Menschen und Parteien gibt, die ihrem eigenen Volk das ureigenste Recht, in Freiheit, Einheit und Selbstbestimmung zu leben, absprechen. –Das alte Buch hat nach wie vor nicht an Aktualität verloren!

Die Aktualität eines alten Buches

In meinem Urlaub las ich das Buch „Südtirol – die verhinderte Selbstbestimmung“, geschrieben vom Völkerrechtler Prof. Felix Ermacora. Dieses Buch ist 1991 erschienen. Die Streitbeilegungserklärung Österreichs vor der UNO lag schon in der Luft. Ich habe ein Exemplar im Antiquariat erstanden. Trotz seines Alters ist dieses Buch höchst aktuell: Die beschriebenen Zustände und Ursachen, die eine Selbstbestimmung Südtirols verhindert haben, sind erschreckender Weise noch heute vorhanden.

Was die Autonomie gefährdet
Auf Seite 122 schreibt er: „Die Autonomie ist durch diese zentralistische Handhabung des Aufsichtsrechts, gedeckt durch einen ebenso zentralistisch orientierten Verfassungsgerichtshof von Grund auf gefährdet.“ -Dieses zentralistische Aufsichtsrecht, auch „Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis“ (AKB) genannt, wurde bereits durch Mussolini 1927 ins Leben gerufen. Offiziell wurde sie 1970 für normale Provinzen wieder eingeführt und seit 1973 Stück für Stück auch für autonome. Man bedenke, dass am 20.01.1972 das Zweite Autonomiestatut offiziell in Kraft trat!

„Nicht nur, daß diese Regionen bei Handhabung ihrer primären Gesetzgebungsgewalt in Detailanweisungen angehalten werden, nationale, also italienische Interessenanlagen zu berücksichtigen, ihnen wird praktisch auch ein Gesetzesinhalt vorgeschrieben. In 38 Fällen hat Südtirol“ (bis 1991) „gegen die Ausübung dieser Befugnis vor dem Verfassungsgerichtshof erfolglos angekämpft. Gefährdet die Handhabung dieser zentralen Aufsicht das italienisch autonome Gefüge an sich, so ist dies ein Problem italienischen Verfassungsrechtes. Wenn es aber die Südtiroler Autonomie betrifft, dann berührt es die Frage des Pariser Abkommens, des Paktes und einmal mehr die Vertragstreue Italiens. Wohl hat der Verfassungsgerichtshof in einem Urteil erkannt, daß auch das Pariser Abkommen seinen Stellenwert im italienischen Rechtsgefüge habe, aber dieser Stellenwert sei verfassungsrechtlich nicht so hochrangig, daß er das „verfassungsimmanente System“ des zentralen Aufsichtsrechtes berühren dürfe! Der Gerichtshof sieht also in dieser autonomiegefährdenden Aufsichtskompetenz eine Art „implied power“ der Regierung – das heißt, eine mitzudenkende Befugnis. So aber kann Österreich im Jahre 1946 die Autonomie für Südtirol nicht verstanden haben!“ (S. 120)

Als Mario Monti 2011 an die Macht kam, nutzte er die Befugnis weidlich aus, um Südtirols Autonomieregelungen außer Kraft zu setzen.
Auch der zentralistisch ausgerichtete Verfassungsgerichtshof wirkt sich negativ auf die Autonomie aus. So werden Gesetze, die von der Südtiroler Landesregierung beschlossen wurden, im Sinne Roms umgedeutet und ausgehöhlt. Plötzlich werden sogar die Hausabstände in Südtirol von Rom aus festgelegt.
Nicht nur Prof. Ermacora hatte vor der Streitbeilegungserklärung Österreichs vor diesen Mängeln gewarnt, auch Alfons Benedikter. Aber die Parteispitze der Südtiroler Volkspartei (SVP) und Wien ignorierten diese Warnung.

Roms Sichtweise zur Autonomie Südtirols
Felix Ermacora nannte die Autonomie als ein Produkt italienischer Regionalpolitik. Er schrieb auf Seite 108: „Italien gewährte die substantielle Autonomie aber nicht als besonderen Minderheitenschutz, sondern als Verwirklichung gesamtitalienischer Regionalisierungspolitik. Dabei gibt es keine föderalen, keine bundesstaatlichen Ansätze.“ In Rom fehle die Bereitschaft zur Dezentralisierung. Daher auch die Äußerung Montis gegenüber dem „Kurier“ am 25.10.2012, die Autonomie Südtirols sei eine reine inneritalienische Angelegenheit. Südtirol ist immer wieder Spielball von Faschisten, Nationalisten und Zentralisten.

Ist Südtirol ein europäisches Modell des Volksgruppenfriedens?
Prof. Ermacora stellt die Frage, ob die Südtiroler nicht in der „Uniformität eines Europas der Vaterländer“ „plattgewalzt“ werden, „die keine wahren Volksgruppen duldet und diese in den Tiegel der EG-Konformität einweist“. „Ist Südtirol nicht zu einem europäischen Modell der friedfertigen Auslöschung einer Volksgruppe auf parteidemokratischem Wege geworden…?“ (S. 112/113)

Ein „europäisches Modell Südtirol“, wie es gern von Rom und der SVP propagiert werde, gibt es nicht, denn das „setzt in erster Linie Dezentralisierungsbereitschaft und Dezentralisierungsstruktur des Staates voraus. … Dabei gibt es keine föderalen, keine bundesstaatlichen Ansätze.“ (S. 108)

„Wenn es Österreich nicht gelingt, seinen Autonomiestandpunkt, der von österreichischer Seite dem Pariser Abkommen und dem Paket zugrunde liegt und dem einem internationalen Verständnis von Autonomie näher ist als dem italienischen (siehe Hannum/Lillich), gegenüber Italien klarzumachen, dann hat es den Kampf um die Wirksamkeit von Pariser Abkommen und Paket schon im Vorfeld jedes anderen Rechtsstreites verloren! –Kann daher eine Südtirollösung mit einer Autonomiehypothek dieses Kalibers europäisches Modell sein, wenn dem Bewahrer der Autonomie die Gewalt und das Recht eingeräumt wird, jederzeit mit dieser Autonomie im Wege seiner Staatsaufsicht umzugehen, wie es ihm beliebt?“ (S. 121)

Ermacora wendet sich dagegen, die italienischsprachige Volksgruppe in Südtirol als eine Minderheit zu bezeichnen. Als Staatsvolk werde sie schließlich von Rom und den Parteien vertreten.
Mehr als 40 Jahre Verhandlungen seien nicht spurlos an die Südtiroler vorbeigegangen. In dieser Zeit haben viele die deutsche Sprache verlernt bzw. erst gar nicht gelernt.

Ist Südtirol eine „Herzensangelegenheit“ für Österreich?
„In keiner einzigen Sitzung, der ich seit 1958 teilzunehmen das Vergnügen hatte, haben österreichische Außenpolitiker Selbstbestimmung für Südtirol gefordert; in keiner Sitzung haben die prominenten Südtirolpolitiker aus Bozen den Außenminister Österreichs gedrängt, die Forderung nach Selbstbestimmung zu erheben.“ (S. 36) „Von 1918/19 und 1945/46 abgesehen, war die Frage nach Selbstbestimmung für Südtirol kein Gegenstand österreichischer diplomatischer oder politischer Aktivitäten.“ (S. 37)

Als 1989 in der DDR durch eine friedliche Revolution die Wiedervereinigung Deutschlands möglich wurde, mehrten sich in Südtirol die Stimmen, die die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes forderten. „Ferdinand Willeit, der „SVP-Querdenker“, forderte im September 1991 „Selbstbestimmung jetzt oder nie“. (S. 35/36) Der österreichische Außenminister Mock antwortete prompt, daß man kurz vor dem Paketabschluß keinen neuen Kurs fahren werde. (S. 44)
„Als ich im Parlament in meiner Abschiedsrede im Sommer 1990 erklärte, man solle die Selbstbestimmung Südtirols nicht am Horizont verschwinden lassen, würde ich keinen Beifall erhalten haben, hätte ein freiheitlicher Abgeordneter nicht in die Hände geklatscht.“ (S. 43/44)

Im Januar 2006 unterschrieben 113 von 116 Bürgermeistern in Südtirol eine Petition, in der sie den Nationalrat Österreichs baten, die Schutzmachtrolle Österreichs in die neue Verfassung aufzunehmen. Seit Jahren bemüht sich die SÜD-TIROLER FREIHEIT um die doppelte Staatsbürgerschaft für die Südtiroler. (Für die im Ausland lebenden Italiener und Ungarn ist es eine Selbstverständlichkeit, diese zu erlangen.) Sehr zur Freude Roms werden in Wien bis zum heutigen Tage Gründe ersonnen, warum diese beiden berechtigten Anliegen sich nicht realisieren lassen. Es findet ein elendes Gezerre auf den Rücken der Südtiroler statt.

Seit Mario Monti an der Macht war, fand unter dem Vorwand der EU-Sparvorgaben ein beispielloser Abbau der Autonomie statt. Als sich im November 2012 Mario Monti und Bundeskanzler Faymann trafen, wurde kein einziges Wort über Südtirol verloren. In einer Aussendung vom 05.11.2012 beklagte Pius Leitner (Freiheitliche), daß Südtirol für die österreichisch-italienischen Beziehungen zum „lästigen Ballast“ geworden ist. –Auch die Einbestellung des italienischen Botschafters in Wien am 08.11.2012 ins Außenministerium kann über das Desinteresse Österreichs an Südtirol nicht hinwegtäuschen.
„Ich gebe durchaus zu, daß die Verträge, die Österreich binden – der Staatsvertrag von 1955, vor allem das Pariser Abkommen -, der Selbstbestimmung für Südtirol nicht förderlich sind. Aber die Kunst des Politischen ist es, aus dem unmöglich Scheinenden Mögliches zu machen.“ (S. 36)

Die Rolle der SVP bei der Selbstbestimmung

Silvius Magnago äußerte sich am 26.04.1994 gegenüber den „Dolomiten“: „Mein Staat ist Italien, und darunter verstehe ich die Einrichtungen des Staates, aber mein Vaterland ist Österreich.“ (S. 66)
Als in Südtirol angesichts der Wiedervereinigung Deutschlands in Südtirol der Ruf nach Selbstbestimmung immer lauter wurde, setzte er dem im Februar 1991 ein Projekt „Südtirol 2000“ entgegen. „Zwar wird die „Vollautonomie“ als Modell gefordert, aber als Zielrichtung das Selbstbestimmungsrecht „als beständiger politischer Anspruch“ angeführt. Allerdings kann nicht übersehen werden, daß die „Partei“ den Zeitpunkt bestimmt, ob und wann von dem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch gemacht werden soll.“ (S. 62)

„Wäre Magnago imstande gewesen, eine Vision der Selbstbestimmung zu entfalten, das Volk wäre ihm, dem Südtiroler Archetypus, gefolgt und hätte den politischen Kampf aufgenommen. … Soviel steht aber fest: Er wird in die Geschichte der südtirolischen Selbstbestimmung als pragmatischer Autonomie- und Paketpolitiker eingehen, der aber bei der Selbstbestimmungsidee für seine Volksgruppe kein Vorbild war. „Ich bilde mir ein, dass ich immer konsequent war.“ (Die Presse, 27./28. April 1991).“ (S. 66/67) –Es ist eine Binsenweisheit in der Menschheitsgeschichte, dass, wer sein Recht nicht fordert, es auch nicht bekommt.

Felix Ermacora beklagte indirekt und direkt die mangelnde Bereitschaft der SVP, Opfer für die Freiheit Südtirols zu bringen. (S. 62 und 113) Ihre Politik setze allein auf Wohlstand, wobei die Wahrung der Identität der eigenen Volksgruppe vernachlässigt werde. Gegenüber den italienischen Faschismus und seinen Relikten sei diese Partei unkritisch. (S. 138/139)
„Als es am 20.5.1991 um den Protest gegen die Renovierung des faschistischen Siegerdenkmals ging und die Patrioten den Neofaschisten gegenüberstanden, als L. Amplatz, ein Mann des Widerstandes, ermordet zu Grabe getragen wurde, konnte man die höchsten Exponenten der Südtiroler Großparteien nicht auf der Straße und im Gefolge der Trauernden sehen. Ist das nicht symbolisch?“ (S. 113)

Aktuelle Beispiele des Versagens der SVP sind die Ablehnung des Cossiga-Vorschlages betreffs des Selbstbestimmungsreferendums der Südtiroler, das Abstimmungsverhalten der SVP im Landtag am 08.05.2012 und die Teilnahme Durnwalders am Alpini-Treffen im Mai 2012 in Bozen.

Die SVP tut so, als könne sie jederzeit auf das Recht (der Südtiroler) auf Selbstbestimmung pochen. Tatsache ist, daß die Italienisierung Tag für Tag voranschreitet und die Ausübung dieses Rechtes dadurch immer schwieriger wird. Worauf wartet die SVP eigentlich noch? Hat es in der letzten Zeit nicht genug Vertragsverletzungen seitens Rom gegeben? Hat die SVP-Führung in Wirklichkeit den Kampf nicht schon längst aufgegeben???

„Dass Österreich im Jahre 1946 weder durch Gruber noch durch die österreichische Regierung oder das Parlament auf das Selbstbestimmungsrecht der Südtiroler ausdrücklich verzichtet hat, ist eine politisch bedeutende Tatsache. Man sollte sich immer daran erinnern, auch wenn Österreich, das offizielle Österreich, dieser Begebenheiten des Jahres 1946 nicht mehr entsinnen mag.“ (S. 91)

Anhang

„Die Gründe, warum das Schlagwort „Selbstbestimmung für Südtirol heute“ nicht greift, können wie folgt zusammengefasst werden:
1. Weil die Gewalt der Mächtigen nicht bereit ist, die Selbstbestimmung für Südtirol und die Ausübung dieser Selbstbestimmung anzuerkennen.

2. Weil die österreichische Außenpolitik in der 1. und 2. Republik, als die Selbstbestimmungsversuche gescheitert waren, nie um die Selbstbestimmung für Südtirol als nationales Ziel österreichischer Politik so ernsthaft gerungen hat, wie etwa die Schwarzen Südafrikas um die Unabhängigkeit vom Apartheidsystem oder die Palästinenser um die Volksrechte in Palästina.

3. Weil die politischen Parteien in Österreich und in Südtirol – nach ersten Rückschlägen – die Selbstbestimmungsforderung nie kontinuierlich und mit Energie als Selbstbestimmungspolitik verfolgt haben und weil die Südtiroler Parteipolitik die Selbstbestimmungsforderung für ihr Land nie so zu ihrem Anliegen gemacht hat, daß sie mit dieser Forderung politisch und auch menschlich gestanden oder gefallen wäre, von zählbaren Ausnahmen abgesehen. Die Opfer der Jahre 1916 bis 1964, die an Leib, Leben, Gut und Vermögen tatsächlich gebracht wurden, können kein politisches Ruhekissen sein, und den Opfern heute Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen, wie Dr. S. Magnago dies am 7.8.1991 getan hat, ist achtenswert und notwendig, zählt aber für die „Selbstbestimmung heute“ nicht! Ihr Vermächtnis ist, sich für die Selbstbestimmung einzusetzen.

4. Weil die öffentliche Meinung in Österreich und in Italien aus dem Selbstbestimmungsrecht der Südtiroler nie einen guten Selbstbestimmungsfall gemacht hat.

5. Weil weder das österreichische noch das südtirolische (ladinische) Volk die Geltendmachung der Selbstbestimmung – von kurzen Phasen der Jahre 1918/20 und 1945/47 abgesehen – kompromisslos gefordert haben. Von kurzen Phasen abgesehen, ist die Selbstbestimmung für Südtirol zu keiner Selbstbestimmungsbewegung geworden!

6. Weil verschiedene Umstände die Selbstbestimmung für Südtirol zu einem so komplexen Problem gemacht haben, das in einer Fremdenverkehrs-, einer modernen Industrie- und Informationsgesellschaft unbeweglich, obwohl für sich dynamisch, geworden ist, und man den Komplex Südtirol als solchen in Richtung Selbstbestimmung nicht vom Fleck zu rühren imstande war.

7. Weil die Frage der Selbstbestimmung heute nicht mehr eine ethnisch homogene Bevölkerung, nämlich die Deutsch-Österreicher und die ureingesessenen Ladiner allein betrifft, sondern alle Einwohner des Gebietes, also auch die Bewohner italienischer Abstammung, und die daraus folgende Unsicherheit die Verantwortlichen mutlos macht.“ (S. 29/30)

Wolfgang Schimank
Berlin, den 13.10.2013

P.S.: Auch Prof. Pernthaler hat sich immer für das Selbstbestimmungsrecht der Südtiroler engagiert. Ich möchte ihn auf diesem Weg grüßen.

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