Bozen, Ende Oktober 2013, um 6.00 Uhr in einem Verwaltungsgebäude der Südtiroler Landesregierung. Draußen ist es noch dunkel und neblig. Im Wartesaal sitzen eine handvoll Personen. Es ist so still, dass man eine Stecknadel beim Aufprall auf dem Fußboden hätte hören können. Die Ruhe wird lediglich durch das Klicken des Minutenzeigers einer Uhr gestört. Dem Wartenden kommt eine Minute vor wie fünf Minuten.
Plötzlich öffnet sich die Tür. Und vor dem Wartenden steht ein korpulenter Mann, rundes Gesicht, lichtes graues Haar, so Mitte / Ende 60 Jahre alt. Mit seinen braunen Augen und einem verschmitzten Lächeln schaut er den Hilfesuchenden an: „Der Nächste bitte!“ – Es ist Luis Durnwalder, der Landeshauptmann Südtirols, höchstpersönlich. Wie einst Kaiser Franz Joseph nimmt er sich nahezu täglich ein paar Stunden Zeit, um sich die Sorgen und Wünsche seiner Landeskinder anzuhören. Er ist sowohl bei den Menschen der deutschen, der ladinischen als auch der italienischen Volksgruppe anerkannt und beliebt. Allerdings ist er auch wegen seiner politischen Äußerungen, seiner Alleingänge und seiner Gutsherrenart äußerst umstritten.
Für Luis Durnwalder sind es die letzten Tage seiner Amtszeit. Er kann auf ein langes politisches Leben zurückblicken: 40 Jahre Mitglied der SVP-Regierung und 24 Jahre lang Landeshauptmann Südtirols. – Wie wird ihn die Geschichte beurteilen? Wie werden ihn die Südtiroler sehen?
Kurze Biographie
Luis Durnwalder ist am 23. September 1941 als Sohn einer Bergbauernfamilie geboren worden. Er erlebte zwar nicht bewusst die Zeit, als Mussolini an der Macht war und die Südtiroler schlimmsten Repressionen ausgesetzt waren. Aber die Zeit von 1945 bis 1970 war für die Südtiroler auch kein Zuckerschlecken: Nachdem der kommunistische Justizminister Palmiro Togliatti im Jahre 1946 allen italienischen Faschisten, einschließlich ihrer Kriegsverbrechen, eine Amnestie gewährt hatte, erlebte der Faschismus in Südtirol eine Renaissance. Südtirol wurde trotz Pariser Abkommen wie eine Kolonie behandelt. –Oft erzählt Durnwalder, wie sein Vater geschlagen wurde, nur weil er einen Tiroler Hut trug…
Die 50-er und 60-er Jahre des letzten Jahrhunderts waren geprägt durch den bewaffneten Widerstandskampf, durch den Marsch auf Schloss Sigmundskron, durch Verhandlungen mit den Italienern, von Niederlagen und Hoffnungen. Diese unruhige Zeit mit ihren täglichen Ungerechtigkeiten und die Ausstrahlungskraft des charismatischen Politikers Silvius Magnago brachten Luis Durnwalder zur Politik. Er trat der Südtiroler Volkspartei (SVP) bei. 1969 wurde er zum Bürgermeister von Pfalzen gewählt. Seit 1973 war er ununterbrochen Landtagsabgeordneter und bekleidete diverse Posten. Fast alle SVP-Politiker verblassten hinter der Statue von Magnago, auch Luis Durnwalder. Er war eher ein loyaler und zuverlässiger Parteisoldat. Erst der gesundheitsbedingte schrittweise Ausstieg Magnagos aus der Politik eröffnete Durnwalder Möglichkeiten für die eigene politische Karriere. So wurde er 1989 Landeshauptmann der Autonomen Provinz Südtirol.
Die dynamische Autonomie – eine geplatzte Illusion
Südtirol hatte bis August 1991 38 Mal erfolglos gegen die Ausrichtungs-und Koordinierungsbefugnis (AKB) geklagt*. Diese wurde vom zentralistisch ausgerichteten Verfassungsgerichtshof in Rom abgelehnt.
Ab 1970 wurde diese für normale Provinzen eingeführt, seit 1973, also 1 Jahr nach Inkrafttreten des 2. Autonomiestatuts, schrittweise auch für Südtirol.* – Alfons Benedikter (SVP) und der Völkerrechtler Prof. Ermacora warnten davor, dass Rom mit Hilfe der AKB eines Tages die Autonomie zertrümmern könnte.
Trotz dieser Warnung stimmte Durnwalder 1992 für die Streitbeilegungserklärung durch Österreich. In der SVP-Führung glaubte man, in der bisher erreichten Autonomie ohne Eingriffe Roms leben zu können. Man wollte Stück für Stück Autonomierechte von Rom abringen, bis die „Vollautonomie“ erreicht ist. Jedoch spätestens 2006 stockte dieser Prozess. SVP-Parlamentarier und Völkerrechtler Karl Zeller veranlasste das zum Ausruf: „Die dynamisierte Autonomie ist tot!“
Seit 2011 wurde unter Ministerpräsident Mario Monti unter dem Vorwand der EU-Sparvorgaben mit Hilfe der AKB die Autonomie ausgehebelt. – Wenn das Wohl und Wehe der Autonomie von der politischen Konstellation in Rom abhängt, dann kann diese weder national, geschweige international abgesichert sein. – Am 9. Juli 2012 zitierte die Zeitung „Dolomiten“ Landeshauptmann Durnwalder mit den Worten „Unsere Autonomie wird langsam mit Füßen getreten!“. Durnwalder hatte so lange den Südtirolern die Unantastbarkeit der Südtiroler Autonomie vorgegaukelt, bis es nicht mehr zu verbergen war.
Abgesehen von der Tatsache, dass die von der SVP avisierte „Vollautonomie“ keine Vollautonomie ist, stellt sich die Frage, wie sich Durnwalder die „Vollautonomie“ innerhalb Italiens vorstellt, wenn die Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis weiterhin besteht und ob Südtirol dann weiter für Italien finanziell bluten muss.
Durnwalder und das „System SVP“
Mit der hart erkämpften Autonomie und dem Fleiß der Südtiroler stellte sich langsam aber allmählich der Wohlstand ein. Von 1945 bis 1992 regierte die SVP unangefochten. Aber der Streit über die Richtigkeit der Streitbeilegungserklärung Österreichs im Jahre 1992 wurde zu einer Glaubensfrage. Er spaltete nicht nur das Land, er beschleunigte auch die Erosion der SVP. Es formierte sich eine ernst zu nehmende Opposition. Diese galt es nun in Schach zu halten.
Zwecks Absicherung der Macht errichteten Durnwalder und die SVP-Führung das „System SVP“. Manche nennen es auch das „System Durnwalder“. Dieses System breitete sich wie Mehltau bis in die entlegensten Winkel Südtirols aus. Die SVP versuchte, alle öffentlichen Organisationen für sich zu vereinnahmen. Bis auf den Südtiroler Schützenbund ist dieser Plan fast aufgegangen. Es ist ein System von Gefälligkeiten, Vettern- und Günstlingswirtschaft. – Die Skandale „Kaufleute aktiv“ und bezüglich der SEL sind keine Zufälle, sondern das Ergebnis dieser Politik.
Das „System Durnwalder“ hat die politische Wahrnehmung vieler (aber nicht aller) Südtiroler getrübt: „Ich bin gesund, habe ein Dach über dem Kopf. – Was will ich mehr?“ – In dieser Gemengelage kann die SVP schalten und walten, wie sie will.
Die jahrzehntelange Alleinherrschaft der SVP hat dazu geführt, dass Durnwalder & Co. Südtirol als ihr Eigentum betrachten. Nur so ist es zu erklären, dass die SVP sich im Koalitionsvertrag mit dem Partito Democratico (PD) freiwillig zur jährlichen Zinszahlung von ca. 1 Mrd. €** zur Schuldentilgung Italiens bereit erklärt hat. Hinzu kommen als eigentliche Schuldentilgung 10 Mrd. €.
Von der rechtlichen Fragwürdigkeit dieses Vertrages abgesehen, sei darauf verwiesen, dass Südtirol einen jährlichen Haushalt von ungefähr 5 Mrd. € hat! Bei einem Wahlsieg der SVP im Herbst 2013 erwarten den Südtirolern tiefe Einschnitte! 20% des bisherigen Haushaltsbudgets müssen irgendwie eingespart werden!
Der dramatische Abbau der Autonomie und die Skandale haben das „System SVP“ aufs tiefste erschüttert. Die SVP und Durnwalder haben an Ansehen verloren. – Reinhard Olt, langjähriger FAZ-Journalist wird in der „Budapester Zeitung“ vom 02.12.2012 zitiert: „Durnwalder ist am Herbst seines politischen Daseins angekommen.“
Durnwalders Verhältnis zur Demokratie
Seit der Verfassungsreform in Italien im Jahre 2001 hat jede Provinz die Möglichkeit, das Landesoberhaupt direkt zu wählen (Verfassungsgesetz 2/2001). – Durnwalder und die SVP-Führung verhinderten das, indem sie für Südtirol eine Ausnahmegenehmigung einholten.
Während sich Durnwalder in allen Bereichen des Südtiroler Lebens einmischt, ist Kritik an ihm und an der SVP nicht erwünscht. Mit denjenigen, die es dennoch wagen, wird nicht zimperlich umgegangen. Es sind teilweise Zustände, die an die DDR erinnern. Der aufmüpfige Südtiroler Schützenbund bekam es am 18.09.2012 zu spüren. In einem Interview mit dem Fernsehsender RAI Bozen kündigte Durnwalder die Kürzung des Landesbeitrages für diese Organisation um mehr als die Hälfte an. Er verbat sich die politische Einmischung. – Die offene Parteinahme des Südtiroler Verbandes der Hoteliers und Gastwirte (HGV), des Landesverbandes der Handwerker (LVH) und des Südtiroler Bauernbundes für die SVP wird hingegen nicht kritisiert.
In den „Dolomiten“ vom 16. September 2012 steht folgende Aussage Durnwalders: „Ich weiß, dass sich kein Kandidat für den Nobelpreis in Demokratie bin.“ Wie wahr! Durnwalder & Co. fürchten Transparenz und klare allgemein gültige demokratische Spielregeln wie der Teufel das Weihwasser. Das würde die Allmacht der SVP brechen und zu einer gewissen gesellschaftspolitischen Hygiene führen!
Versäumte Chancen
Luis Durnwalder ist seit März 1989 der Landeshauptmann Südtirols. Als im November 1989 die innerdeutsche Grenze fiel, nutzten er, Magnago und die SVP-Führung nicht die Gunst der Stunde, um mit Nachdruck das Selbstbestimmungsrecht der Südtiroler zu fordern. Stattdessen präsentierten sie das Projekt „Südtirol 2000“, das das Erreichen der „Vollautonomie“ beinhalten sollte.
Als Reaktion auf die Unterzeichnung einer Petition an den Österreichischen Nationalrat durch 113 von 116 Bürgermeistern Südtirols im Januar 2006 bot der Staatspräsident Italiens Francesco Cossiga den Südtirolern ein Selbstbestimmungs-Referendum an. Anfangs freudig begrüßt, wurde dieser Vorschlag vonseiten der SVP abgelehnt und Cossiga lächerlich gemacht.
Im SVP-Parteistatut ist die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Südtiroler zwar festgeschrieben; dieser Passus hat aber eher die Funktion einer Beruhigungspille. Durnwalder und Co. behaupten immer wieder, man könne jederzeit auf dieses Recht zurückgreifen. Angesichts des ständigen Zuzugs von ausländischen Wirtschaftsflüchtlingen und der voranschreitenden Italienisierung schwindet die Chance jeden Tag ein Stückchen mehr.
Durnwalder & Co. befürchten, in einem Freistaat oder in einem wiedervereinigten Österreich ihren Einfluss zu verlieren. Noch braucht Rom die SVP zur Niederhaltung der aufmüpfigen Südtiroler. Dafür wird die SVP mit Nachsicht belohnt (bei der zu spät beantragten Rückerstattung der Wahlkampfkosten, Ausnahmegenehmigung bei der Wahl des Landeshauptmanns, Ausnahmegenehmigung bei der prozentualen Hürde zum Einzug in das Parlament und in den Senat in Rom, Blitzeinbürgerung der SVP-Landtagskandidatin Marie Måwe). Spätestens, wenn die SVP das letzte Tafelsilber verscherbelt hat, das Identität heißt, ist sie durch gesamtitalienische Parteien ersetzbar…
Die Brennergrenze teilt nach wie vor das Tiroler Volk. Rom hat dafür gesetzgeberisch gesorgt. Durnwalder muss sich aber den Vorwurf gefallen lassen, dass er nicht einmal die vorhandenen Möglichkeiten voll ausgenutzt hat, um ein Zusammenwachsen von Süd-, Nord- und Osttirol zu fördern.
Licht und Schatten Durnwalders
Diese liegen bei Luis Durnwalder sehr eng beisammen und kontrastieren besonders stark.
Einerseits nimmt er sich viel Zeit, um sich die Sorgen und Wünsche seiner Landeskinder anzuhören. Auf der anderen Seite ist er äußerst intolerant gegenüber Andersdenkenden (siehe Abstrafung des Südtiroler Schützenbundes und das öffentliche Abwatschen seiner Parteigenossen). Er neigt auch zu (undemokratischen) Alleingängen. So handelte er „allein“ mit Rom das „Mailänder Abkommen“ aus und lässt bei wichtigen Verhandlungen in Wien die Völkerrechtler Brugger und Zeller (beide SVP) zu Hause.
Die von Ettore Tolomei frei erfundenen italienischen Orts- und Flurnamen und die faschistischen Denkmäler sind im Bewusstsein vieler Südtiroler wie eine offene Wunde. Noch vor 2011 gab es von Durnwalder und anderen SVP-Größen markige Sprüche betreffs dieser Denkmäler. Der Bondi-Brief vom Januar 2011 schlug in Bozen ein wie eine Bombe. Mit diesem Schreiben wird die Zuständigkeit für die faschistischen Denkmäler in Bozen an Südtirol übertragen. Seitdem hört man keine Forderungen nach Abriss seitens Durnwalder & Co… Damit man seine Taten nicht an seine Worten messen kann, bediente sich Durnwalder eines Tricks: Er rief einen öffentlichen Ideenwettstreit aus und suchte sich letztendlich die Lösung aus, die ihm am zweckmäßigsten erschien. Das Resultat: Das Siegesdenkmal und das Mussolini-Relief erscheinen den „Barbaren“ in neuem Glanz und demonstrieren, wer in Südtirol das Sagen hat!
Bei der 150-Jahresfeier der Staatsgründung Italiens am 17.03.2011 blieb Luis Durnwalder fern, weil er als Südtiroler wegen der Annexion keinen Anlass zum Feiern sah. Für dieses mutige Auftreten gab es von vielen seiner Landsleute Zustimmung. Rom hatte kein Verständnis und war darüber empört. Viele Südtiroler nahmen es aber Durnwalder ziemlich übel, als er im Mai 2012 beim
Alpinitreffen in Bozen auf der Bühne stand und gemeinsam mit italienischen Nationalisten und Postfaschisten gut gelaunt die Parade abnahm uns applaudierte. – Die Alpinis haben sich bis heute nicht von ihrer faschistischen Vergangenheit (inklusive Kriegsverbrechen) distanziert und waren bei der Annexion Südtirols an vorderster Front!
Luis Durnwalder sagte einmal, dass er innerhalb eines halben Jahres die Südtiroler überzeugen könnte, vom Recht auf Selbstbestimmung Gebrauch zu machen. Selbst in der Zeit, als die Autonomie von Rom aufs Gröbste verletzt wurde und er den Satz sagte: „Die Autonomie wird langsam mit Füßen getreten!“, denkt er nicht daran, die Südtiroler zu mobilisieren.
Durnwalder hat in seiner Funktion als Landeshauptmann viele italienische Politiker kommen und gehen sehen. Er kennt wie kaum ein anderer die italienischen Verhältnisse. Leider nutzt er diese Kenntnisse nicht für die Freiheit seines Volkes, sondern zur Festigung der Macht der SVP. Durnwalder hinterlässt seinem Nachfolger kein bestelltes Feld. Die faschistischen Denkmäler in Südtirol, die Toponomastik und die Aufweichung des Proporzes sind einige Beispiele für ungelöste Probleme.
Der Weggang von Durnwalder gibt Südtirol eine neue Chance.
Der Landeshauptmann resümiert, es sei sein Verdienst, wenn die drei Volksgruppen in Südtirol friedlich nebeneinander leben, und heute ein Wohlstand erreicht worden ist, um den sie so mancher europäischer Staat beneidet. Das mag auf den ersten Augenblick richtig sein. Aber würde man das und vielleicht nicht noch mehr in einem Freistaat Südtirol oder in einem wiedervereinigten Österreich erreichen???
Inzwischen füllen sich die Büro- und Warteräume im Verwaltungsgebäude. Im Geräusch des Treibens geht das Ticken der Uhr unter. Aber die Zeit schreitet unerbittlich voran und arbeitet gegen die Südtiroler. Angesichts der fortschreitenden Italienisierung wird es für sie immer schwieriger, ihr ureigenstes Recht auf Selbstbestimmung wahrzunehmen.
Wird der neue Landeshauptmann die Südtiroler in die ersehnte Freiheit führen???
Wolfgang Schimank
Berlin, den 20.09.2013
*) Felix Ermacora „Südtirol – Die verhinderte Selbstbestimmung“, Seite 119
**) Aufgrund des ständig schwankenden Zinssatzes kann der Betrag geringer, aber auch höher sein. Es wurde ein Zinssatz von 4,5% zugrunde gelegt.