Den italienischen Spitzenpolitikern eilt der berühmt-berüchtigte Ruf voraus, Verträge nur so lange einzuhalten, wie sie ihnen nützen. Den Grundstein dafür hatten sie gelegt, als Italien 1915 seinen Bündnispartnern Deutschland und Österreich-Ungarn militärisch in den Rücken fiel. Anhand von Beispielen soll gezeigt werden, daß diese Politiker noch heute an diesem Image arbeiten.
„Im Geiste der Billigkeit und Weitherzigkeit“ bot Italien den Südtirolern 1946 im Pariser Vertrag als Preis für die Unfreiheit eine Autonomie an. Jedoch Rom dachte keineswegs daran, den Vertrag umzusetzen und hielt Südtirol wie eine Kolonie. Erst die Demonstration in Sigmundskron, der bewaffnete Kampf des „Befreiungsauschuß Südtirol“ (BAS) und die Internationalisierung der Südtirol-Frage zwang Italien an den Verhandlungstisch. Nach zähen Verhandlungen wurde das 2. Autonomieabkommen abgeschlossen, das am 20.01.1972 in Kraft trat.
Offiziell wurde die Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis (AKB) 1970 für die normalen Provinzen wieder eingeführt und 1973, also ein Jahr nach Inkrafttreten des 2. Autonomiestatuts, auch für die autonomen Regionen in Italien. Seitdem greift das zentralistisch orientierte Verfassungsgericht immer ungenierter in die Autonomie Südtirols ein. „So aber kann Österreich im Jahre 1946 die Autonomie für Südtirol nicht verstanden haben!“ schreibt der Völkerrechtler Felix Ermacora in seinem Buch „Südtirol: Die verhinderte Selbstbestimmung“. [1]
Obwohl er eindringlich warnte, daß die AKB eines Tages wie ein Krebsgeschwür die Autonomie zerstören könnte, gab Österreich im Jahre 1992 vor der UNO eine Streitbeilegungserklärung ab. In Wien glaubte man, daß es wohl nicht so schlimm werden könnte. –Welche Naivität! Österreich wollte unbedingt Mitglied der EG werden, aber Italien drohte mit seinem Veto. Mit der übereilten Streitbeilegungserklärung hatte das offizielle Österreich Südtirol für seine Mitgliedsambitionen geopfert. Die sich daraus ergebende völkerrechtliche Situation soll an dieser Stelle nicht untersucht werden.
Nach einer trügerischen Ruhe (Schockstarre der nationalistischen / faschistischen Kräfte) begann Berlusconi ab 2001 mit der Aushöhlung der ungeliebten Autonomie Südtirols. Unter Monti fand die Beschneidung der Autonomie ihren vorläufigen Höhepunkt. Die SVP-nahe Zeitung „Dolomiten“ zitierte Landeshauptmann Durnwalder mit den Worten: Die „Autonomie wird langsam mit Füßen getreten!“. [2] Das Mailänder Abkommen, das die finanziellen Ströme zwischen Rom und Bozen regelte, wurde massiv verletzt. Seit August 2013 wurde unter Ministerpräsident Letta eine neue Abmachung, das „Bozner Abkommen“ aus der Taufe gehoben. Daneben gibt es noch den rechtlich höchst umstrittenen Koalitionsvertrag zwischen SVP, PD und PATT. In diesem verpflichtet sich die Südtiroler Volkspartei, daß Südtirol sich so lange an der Schuldentilgung beteiligt, bis Italien die Staatsverschuldung unter 60% gedrückt hat. Dieser Zustand war letztmalig 1980! –Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch das „Bozner Abkommen“ zur Makulatur wird.
Die Kunde von massiven Verletzungen der Autonomie durch Rom hatte wohl auch den Europarat erreicht: Am 10.05.2013 wurde der Europäische Minderheiten-Berichterstatter Ferenc Kalmar beim Landeshauptmann Luis Durnwalder vorstellig. Der Beauftragte erhielt einen ausführlichen Bericht, der leider nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war. [3] Die Süd-Tiroler Freiheit bezeichnete diese Aufstellung als eine „Liste der geraubten Kompetenzen“. –Dieser Bericht dürfte mit Sicherheit kein Ruhmesblatt für Italiens Minderheitenpolitik und für seine Vertragstreue sein.
Der Pariser Vertrag und die kleinen alltäglichen Schikanen
Wenn der Tourist in Südtirol einreist und neben der wunderschönen Bergkulisse die deutschsprachigen Ortsschilder sieht, dann hat er den Eindruck einer heilen Welt. Die einstigen schwelenden Probleme mit der deutschen Minderheit in Italien seien zur vollsten Zufriedenheit gelöst worden. Viele kommen für eine kurze Zeit hierher und wollen sich erholen. Die Südtiroler mit ihrer Gastfreundschaft wollen die Gäste nicht mit ihren Problemen mit der italienischen Staatsmacht behelligen. Doch es gibt gewisse Probleme.
Die Tatsache, daß die deutschen Orts- und Flurbezeichnungen nur geduldet und die italienische hingegen gesetzlich verankert sind, wissen die wenigsten ausländischen Politiker und Touristen. Die Duldung hat neben der Vortäuschung, alle Probleme seien gelöst, den Vorteil, daß Rom die Rücknahme der deutschen Orts- und Flurnamen geräuschlos und ohne lästige parlamentarische Mehrheiten beschließen kann, sobald sich die ethnischen Verhältnisse in Südtirol geändert haben.
Die Südtiroler erleben es immer wieder, wenn italienische Staatsbeamte, sei es auf der Post, bei der Polizei oder bei der Bahn, nicht deutsch sprechen können oder wollen. Dabei sind sie laut Dekret des Präsidenten der Republik Nr. 5876 dazu angehalten. Viele, aber nicht alle, Südtiroler sprechen dann dort lieber gleich italienisch. So geht man den Problemen aus dem Weg und löst sie wesentlich schneller… Aber auch im Gesundheitswesen ist einiges im Argen. Um Kosten zu sparen, werden Werkverträge abgeschlossen und Personal eingestellt, welches nicht über ausreichende Deutschkenntnisse verfügt. Das könnte besonders bei der Notaufnahme verheerende Konsequenzen haben.
Die vielen kleinen Fälle, wo Vertreter des Staates die gebotene Zweisprachigkeit mißachten, gehen im Alltag unter. Hin und wieder gerät ein Vorfall doch in die Medien, wie dieser:
Am 17.03.2013 fand ein Fußballspiel statt zwischen den Mannschaften des ASC St. Georgen und Montichiari. Während dieses Spieles wurde die Südtiroler Fußballmannschaft vom Schiedsrichter angehalten, kein deutsch zu sprechen. Leider ist das kein Einzelfall. Es wurden auch schon Südtiroler Fußballspieler deswegen abgemahnt. [4], [5]
Solche Ereignisse zeigen, daß die Grundsätze des Pariser Abkommens bis heute nicht eingehalten werden. Ein Südtiroler ist in Italien nur dann fast ein gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft, wenn er seine Herkunft verleugnet. Er muß italienischer sein als ein Italiener („italianissimi malgrado l’origine dei nomi“). [6] –Immer wieder hört man den Spruch: „Die Südtiroler haben Italiener zu sein, basta!“
Eine Unterschrift für immer weniger Zugeständnisse
Im Mailänder Abkommen wurde vereinbart, daß sich Südtirol an der Tilgung der Schulden Italiens beteiligen muß. Die Zahlungsverpflichtungen waren aber noch relativ moderat.
Laut Autonomiestatut überweist Südtirol erst einmal alle Steuereinnahmen nach Rom und bekommt dann 90% davon zurückerstattet. –Seit der Finanzkrise nutzt Rom diesen Umstand hochgradig aus, behält einfach Geld zurück und nimmt es zur Schuldentilgung. Im Dezember 2012 trieb es Mario Monti auf die Spitze: Ungefähr 350 Mio. €, die Südtirol zustanden, wurden einfach einbehalten. Die Südtiroler Landesregierung / -verwaltung kam dadurch in finanzielle Schwierigkeiten und konnte seine Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen. Bozen wollte aus Verzweiflung einen Überbrückungskredit in Höhe von 150 Mio. € aufnehmen. Doch Rom verbot es. -Bis dorthin ist scheinbar noch nicht die alte Bauernregel vorgedrungen „Eine Kuh, die man melken will, darf man nicht schlachten!“ Anstelle des Mailänder Abkommens ist nun das Bozner Abkommen getreten, das Südtirol größere Zahlungen auferlegt.
Die Südtiroler Volkspartei hatte die Illusion, daß unter einer sozialdemokratischen Regierung in Rom der Schilderstreit von 2011 (betrifft die Toponomastik in Südtirol) zur vollsten Zufriedenheit gelöst wird. „Als Landeshauptmann Luis Durnwalder aber auch Arno Kompatscher am 1. August den Entwurf im Regionenministerium erstmals sahen, trauten sie ihren Augen nicht. Durnwalder sollte das unterzeichnen, was er vor zwei Jahren abgelehnt hat. … Am Ende ließ sich Durnwalder vor allem von Karl Zeller breitschlagen, zu unterzeichnen.“ [7]
Angesichts der Tatsache, daß Südtirol für eine Unterschrift von Rom immer weniger Zugeständnisse bekommt, stellt sich die Frage, woher die SVP den Optimismus nimmt, jemals eine „Vollautonomie“ zu erreichen.
Ist die Selbstbestimmung der Völker eine Einbahnstraße?
Die Diskussion über das Selbstbestimmungsrecht der Völker wurde spätestens durch die Ideen des US-Präsidenten Woodrow Wilson entfacht. Hierbei „geht es um einen völkerrechtlichen Rechtssatz, dem zufolge jede Nation das Recht hat, frei, also unabhängig von ausländischen Einflüssen, über ihren politischen Status, ihre Staats- und Regierungsform und ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu entscheiden.“ [8] Sein 14-Punkte-Programm sah ein Nachkriegs-Europa in den Grenzen entlang der Völker, aber nicht quer durch diese vor. Das Selbstbestimmungsrecht des Tiroler Volkes wurde von den Alliierten mit Füßen getreten und Italiens Annexionsgelüste befriedigt.
1953 forderte Ministerpräsident Giuseppe Pella, ein ehemaliger faschistischer Podestá, von der Weltgemeinschaft erfolgreich das Selbstbestimmungsrecht für Triest. Im gleichen Atemzug verweigerten er und seine Nachfolger das gleiche Recht den Südtirolern. Bis heute sind die Südtiroler offiziell nicht gefragt worden, ob sie beim italienischen Staatenverband bleiben wollen.
Nach der Annexion Südtirols wurden im Jahre 1923 die ladinischen Gemeinden Fodom (Buchenstein), Anpezo (Hayden) und Col (Verseil) der heutigen Provinz Belluno zugeschanzt. –Um dieses Unrecht rückgängig zu machen, fand in diesen Gemeinden am 28.10.2007 eine Volksbefragung statt. Eine große Mehrheit stimmte für eine Rückgliederung. –Die italienischen Politiker haben bis heute den Willen der Ladiner ignoriert.
Rom sei daran erinnert, daß Italien im Jahre 1975 den Internationalen Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte sowie den Internationalen Pakt über Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte unterschrieben hat. –Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist ein Universalrecht!
Bitte sparen, aber nicht bei uns!
Während das einfache Volk durch eine verfehlte Sparpolitik verarmt ist, haben die Politiker noch nicht einmal angefangen bei sich zu sparen. Es ist immer nur bei Ankündigungen geblieben.
Die Gehälter der italienischen Politiker sind Weltklasse: Wie die „Neue Zürcher Zeitung“ vom 09.11.2013 zu berichten weiß, plant das Abgeordnetenhaus in Rom, dieses Jahr seine Ausgaben um 10% zu erhöhen. Die Abgeordnetenkammer in Italien gibt 2,4-mal mehr Geld aus als das britische Unterhaus. Der Quirinalspalast ist doppelt so kostspielig wie das Elysée, obwohl der italienische Präsident weit weniger Befugnisse als der französische Staatspräsident hat und 8-mal so teuer wie das Bundespräsidialamt in Berlin ist. [9], [10] Die deutsche Illustrierte Stern“ schreibt: „Berlusconi mag weg sein, am maroden politischen System in Italien ändert sich deshalb nichts. In keinem europäischen Land engagieren sich die Volksvertreter so sehr für ihr eigenes Wohlergehen und so wenig für das Wohl des Volkes.“ [10]
Das reformunwillige Rom treibt nicht nur ein mieses Spiel gegenüber seinem Staatsvolk und seinen Minderheiten, sondern auch gegenüber Europa: „Italien ist dank finanzieller Tricks nicht nur EG-Gründungsmitglied, sondern auch von Anfang an beim Euro dabei.“ schreibt der „Focus“. [11] 1999 war Mario Draghi hoher Beamter im italienischen Finanzministerium. Seit Herbst 2011 sorgt er als EZB-Chef mit dem Aufkauf italienischer Staatsanleihen, daß die mittel- und nordeuropäischen Steuerzahler für Italiens verfehlte Wirtschafts- und Steuerpolitik und für die reform- und sparunwillige Politikerkaste finanziell bluten müssen. Es findet eine kalte Enteignung und eine perfide Umverteilung von unten nach oben statt. Das Verhalten der „casta“ und der unter Aufsicht von Mario Draghi stehenden EZB sind zutiefst antieuropäisch!
Wird Italien immer nationalistischer oder gar faschistischer?
Als die (west-) europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet wurde, waren es vorrangig, wie der Name es sagt, wirtschaftliche Gründe. Damals konnte man wohl kaum von einer Wertegemeinschaft sprechen. Die niedergeschlagenen Volksaufstände in der DDR und in Ungarn, der Bau der Berliner Mauer und die Annäherung der Machtblöcke Anfang der Siebziger Jahre führten zum Nachdenken, welche moralischen Werte Westeuropa vertreten sollte. Das fand seinen Ausdruck in der Ratifizierung der KSZE-Akte. Mitte der 70er-Jahre fielen die faschistischen Diktaturen in Portugal, Spanien und in Griechenland. Es waren die Schandflecke der westlichen Welt.
In Spanien hatten es die Menschen nicht leicht mit der Geschichtsaufarbeitung. Letztendlich brachten die Sozialdemokraten 2007 ein Gesetz namens „Ley de Memoria Histórica“ auf den Weg. Dieses verpflichtet die lokalen Behörden, alle Zeugnisse und Symbole des Diktators in Form von Denkmälern, Gedenktafeln oder Straßennamen aus dem öffentlichen Leben zu beseitigen. Im Jahre 2009 fiel in Melila das letzte faschistische Denkmal Spaniens. [12]
Im Gegensatz zu diesen Staaten verläuft die Geschichte in Italien ganz anders:
1946 erließ der damalige kommunistische Justizminister Palmiro Togliatti ein Amnestiegesetz, das alle italienischen Faschisten samt ihrer Kriegsverbrechen vor in- und ausländischer Strafverfolgung schützte. Da es nie zu Prozessen kam, entstand in Italien der Mythos, daß der italienische Faschismus nicht so schlimm gewesen sein muß. Daher unterscheidet man zwischen dem „guten“ Faschismus (dem italienischen) und dem „schlechten“ Faschismus (dem deutschen).
Die Tinte, mit der das Amnestiegesetz unterschrieben worden ist, war kaum getrocknet, als am 26.12.1946 die Movimento Sociale Italiano (MSI) gegründet wurde. Diese neofaschistische Partei existierte bis 1995, bis sie dann in die Alleanza Nazionale (AN) aufging. Es vollzog sich in dieser Partei eine gewisse „Läuterung“, ohne am Kern der Ideologie zu rütteln. 2009 ging diese Partei in die von Berlusconi gegründeten Popolo della Libertá (PdL) auf. Mit Berlusconi wurde, genau genommen, der italienische Faschismus gesellschaftsfähig. Ignazio La Russa, ein ehemaliges Mitglied der MSI und der AN, wurde unter Berlusconi von 2008 bis 2011 Verteidigungsminister. Er ließ seine Gesinnung sofort den Südtirolern spüren.
Wenn man als Geschichtsinteressierter mit offenen Augen durch Südtirol geht, dann kommt einem dieser Landstrich wie ein Freilandmuseum vor: das Siegesdenkmal und das Finanzamt in Bozen, der Kapuzinerwastl in Bruneck, die Beinhäuser in Mals, in Gossensaß und in Innichen und der Obelisk in Lana usw. –Im Gegensatz zu Spanien ließ die Regierung in Rom alle Denkmäler kostspielig renovieren. Damit die Südtiroler Landesregierung nicht auf die Idee kommt, diese abzureißen / zu musealisieren, wurden alle faschistischen Bauten unter Denkmalschutz gestellt. Diese Relikte aus der Zeit Mussolinis sind gleichzeitig auch ein Symbol der Unterdrückung eines anderen Volkes. An diesen Bauten flattert neben der italienischen Fahne auch die Flagge der EU. Rom will damit den nationalistisch-faschistischen Geist mit dem des europäischen, humanistischen Geist gleichsetzen. Perverser geht es kaum noch!!!
Die zunehmende Verarmung breiter Teile der Bevölkerung Italiens wird zweifellos zu einer Radikalisierung führen. Das kann für Südtirol gefährlich werden. Angesichts des bestehenden sozialen Sprengstoffs könnte mit dem skandalösen Interview mit Landeshauptmann Kompatscher in der Sendung „Porta a Porta“ am 13.01.2014 eine Lunte gezündet worden sein…
Wie nationalistisch die Partito Democratico (PD) ist, das zeigt sich an der Tatsache, daß von dieser Partei kein Protest kam betreffs der Skandalsendung. Die PD ist in Südtirol schließlich Koalitionspartner mit der Partei von Arno Kompatscher.
Erst „Porcellum“, jetzt „Italicum“: Vom Regen in die Traufe!
Das alte Wahlgesetz in Italien war zutiefst undemokratisch. Viele Italiener nannten es „Porcellum“ (Schweinerei). Für die Südtiroler hatte es zur Folge, daß eine Partei im Gebiet Trient und Südtirol die 20%-Hürde und nur für Südtirol faktisch die 40%-Hürde überwunden werden mußte. Nutznießer war bisher immer nur die Südtiroler Volkspartei (SVP). Bei den letzten Parlaments- und Senatswahlen im Februar 2013 kam die SVP auf knapp über 40%. Das heißt, der Wille von 60% der Wähler ist einfach ignoriert worden! Betreffs dieses Wahlgesetzes waren Klagen von kleineren Parteien anhängig.
Am 04.12.2013 erklärte das Verfassungsgericht das seit 2006 geltende Wahlgesetz für verfassungswidrig. Sie nannte zwei Gründe:
- Die Mehrheitsprämie führte zu starken Verzerrungen der institutionellen Machtverhältnisse.
- Das System der blockierten Listen führte dazu, daß keine Vorzugsstimmen abgegeben werden können. Die Wahl von Einzelkandidaten war nicht möglich.
„„Das Porcellum-System ist tot, heute ist ein großer Tag für die Demokratie“, feierte der Parlamentarier Pino Pisicchio. Reformminister Gaetano Quagliariello meinte, das Parlament müsse jetzt endlich ein neues Wahlgesetz über die Bühne bringen, da man nur so Italien stabile politische Verhältnisse bescheren könne.“ [13]
Matteo Renzi, Vorsitzender der Partito Democratico (PD) und Gegenspieler des Ministerpräsidenten Enrico Letta, zeigte sich über den Richterspruch verstimmt: „Wir haben einen Entscheid des Verfassungsgerichts nicht gebraucht, um das Porcellum zu überwinden!“ [14]
Die Freude der einfachen Menschen und der kleinen Parteien währte nicht lange. In einer Nacht- und Nebelaktion lud Matteo Renzi den politisch gestrauchelten Ex-Premier Silvio Berlusconi am 18.01.2014 zu sich in die Parteizentrale. Mit einem Federstrich wurde das neue Wahlgesetz mit dem Namen „Italicum“ aus der Taufe gehoben. Es ist ein Verhältniswahlrecht, das ebenfalls einen Mehrheitsbonus vorsieht. Es ist also genau so undemokratisch wie das alte Wahlgesetz. Das Zwei-Kammern-System soll abgeschafft und der Senat aufgelöst werden. Der Senat soll nach dem Vorbild des spanischen Wahlsystems in eine Kammer der Länder umgewandelt werden.
Das „Italicum“ sieht ein Mehrheitsbonus von 15% bis 18% für jene Liste vor, die 35% bis 37% erhält. Sollte diesen Prozentsatz keine Liste erreichen, gibt es zwischen den zwei stärksten Listen eine Stichwahl. Auf jeden Fall gewinnt Renzi oder Berlusconi. Dieses Wahlgesetz nützt nur den großen Parteien. Italien, und leider auch Südtirol, gelangen somit vom Regen in die Traufe…
Die traurige Botschaft ist: Italien schafft langsam aber sicher die Demokratie ab! Dieses Land schwankt ständig zwischen Regionalisierung und Zentralisierung sowie zwischen Demokratie und Diktatur.
Wolfgang Schimank
Berlin, den 12.02.2014
Buchempfehlungen:
Sergio Rizzo / Gian Antonio Stella: “la casta. cosí i politici italiani sono diventati intoccabili”
(“Die Kaste, So wurden italienische Politiker Unantastbare”)
Walter Krämer: „Kalte Enteignung: Wie die Euro-Rettung uns um Wohlstand und Renten bringt“
[1] Felix Ermacora, „Südtirol: Die verhinderte Selbstbestimmung“, S. 120
[2] „Dolomiten“, 09.07.2012, „Autonomie wird langsam mit Füßen getreten“
http://www.stol.it/layout/set/print/content/view/artikel_print/506116
[3] Autonome Provinz Bozen – Südtirol –Pressedienst, 10.05.2013, „Europäischer Minderheiten-Berichterstatter Kalmar bei LH Durnwalder“
http://www.provinz.bz.it/lpa/service/news.asp?archiv_action=4&archiv_article_id=424997
[4] „Dolomiten“, 20.03.2013, „Schiedsrichter will deutsche Sprache nicht hören“
http://www.stol.it/layout/set/print/content/view/artikel_print/624657
[5] „Neue Südtiroler Tageszeitung“, 20.03.2013, „ASC St. Georgen verurteilt Verhalten des Schiedsrichters“
http://www.suedtirolnews.it/d/artikel/2013/03/20/asc-st-georgen-ver…
[6] http://www.brennerbasisdemokratie.eu/?p=18201
[7] “Neue Südtiroler Tageszeitung“, 03.09.2013, „Römischer Eklat“
http://www.tageszeitung.it/2013/09/03/romischer-eklat/
[8] http://de.wikipedia.org/wiki/Selbstbestimmungsrecht_der_Völker
[9] „Neue Zürcher Zeitung“, 09.11.2013, „Italiens verschwenderische Politiker“
http://www.nzz.ch./aktuell/international/reportagen-und-analysen/ital…
[10] „stern“, Ausgabe 47, 17.11.2011, Seite 56-64, Claus Lutterbeck: „Sich zanken … und bedienen“
[11] http://www.focus.de/finanzen/news/teurer-euro-beitritt-euro-schummelei-koennte-italien-acht-milli…
[12] http://suite101.de/article/streit-um-spaniens-faschistische-symbole-a54604
[13] http://www.stol.it/layout/set/print/content/view/artikel_print/756616
[14] „Die Welt“, 05.12.2013, „Justiz macht „Schweinerei“ beim Wahlrecht ein Ende“
http://www.welt.de/politik/ausland/article122609541/Justiz-macht-Schweinerei-beim-Wahlrecht-ein-Ende