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Die „Vollautonomie“ Südtirols – Irrweg oder bewußte Täuschung?

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Die „Vollautonomie“ Südtirols – Irrweg oder bewußte Täuschung? – Deutschland begeht am 3. Oktober 2014, seinem Nationalfeiertag, das Gedenken an die friedliche Revolution, den Fall der Mauer und die Wiedervereinigung vor 25 Jahren.

Der Prozeß, bis es dazu kam, verlief nicht ohne Widersprüche. „Viele Sozialdemokraten bekämpften die Wiedervereinigung – heute wollen sie nichts mehr davon wissen.“ schrieb der FOCUS am 30.09.2000. Die SPD war in dieser Hinsicht zutiefst zerrissen. Willy Brandt war einer der wenigen führenden sozialdemokratischen Politiker, der sich spät, aber nicht zu spät für die Wiedervereinigung einsetzte. Man mag es kaum glauben, noch im Mai 1990 demonstrierte die Grüne Claudia Roth gemeinsam mit ihren Gesinnungsgenossen in Frankfurt am Main gegen ein wiedervereinigtes Deutschland!

In der DDR waren viele Menschen überzeugt, daß die Regierungen der BRD einen Plan in der Schublade hätten, wie der Einigungsprozeß organisiert wird. Das war aber nicht der Fall.

Zwischen Dezember 1989 und Mai 1990 erlebte die DDR, Nachkriegsdeutschland allgemein, eine Meinungs- und Pressefreiheit, auch eine Vielfalt an Parteien und Organisationen, die es davor und danach nicht mehr gegeben hat. Es gab einen Ideenwettstreit ungekannten Ausmaßes. Es herrschte Pluralismus bester Art. Man hatte den Eindruck, als wollte ein Volk seine Ideen, seine Sehnsüchte und Träume herausschreien, die sich in 40 Jahren Uniformität aufgestaut hatten. Die friedliche Revolution entwickelte eine Eigendynamik, bei der Politiker Mühe hatten, hinterher zu kommen und eine Antwort zu finden. Jeder DDR-Bürger, der sich zu der Wendezeit politisch engagierte, wird diese aufregende Zeit nie vergessen…

Aber die Freiheit duldet kein Graues,
Überall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sie mit Farbe beleben;
Doch an Blumen fehlts im Revier,
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.
Kehre dich um, von diesen Höhen
Nach der Stadt zurück zu sehen!
Aus dem hohlen finstern Tor
Dringt ein buntes Gewimmel hervor.

(abgewandeltes Gedicht aus „Der Osterspaziergang“ von Johann Wolfgang von Goethe)

Auswirkung der friedlichen Revolution auf Italien

Die Ereignisse in der DDR lösten – begünstigt durch Entscheidungen in Budapest – auch gesellschaftliche Umbrüche in ganz Osteuropa aus und ließen die Sowjetunion auseinander fallen.

Diese Erschütterungen waren auch in Rom zu spüren. Dort wurde den Politikern plötzlich bewußt, daß es im Norden Italiens ein Volk gibt, dem man gewaltsam und mit List und Tücke die Selbstbestimmung verweigert. –Welche Argumente will man vorbringen, wenn die Südtiroler auf einmal auf ihr Recht auf Selbstbestimmung pochen? Die römische Politik mußte gewahren, daß noch immer nicht alle Verpflichtungen aus dem eigentlich schon 1972 in Kraft getretenen 2. Autonomiestatut umgesetzt worden waren. –Der Völkerrechtler Felix Ermacora erinnerte in seinem 1991 erschienenen Buch „Südtirol: Die verhinderte Selbstbestimmung“ daran, daß sich die jahrzehntelangen Verhandlungen und die äußerst zähe Umsetzung von Abmachungen negativ auf Bestand und Identitätsempfinden der deutschen Volksgruppe in Südtirol ausgewirkt haben. Infolgedessen haben sich auch Nord- und Südtiroler auseinander gelebt. Die italienische Politik setzt(e) darauf, daß sich das ethnische Problem mit der Zeit von selbst erledigt (hat).

Die Geburt der Idee einer „Vollautonomie“

Als 1989 in der DDR durch eine friedliche Revolution die Wiedervereinigung Deutschlands möglich wurde, mehrten sich Stimmen in Südtirol, die die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes forderten. „Ferdinand Willeit, ein „SVP-Querdenker“, forderte 1991 „Selbstbestimmung jetzt oder nie!“ (Ermacora, a.a.O. S.35/36) –Doch die „Schutzmacht“ Österreich wollte endlich Mitglied der Europäischen Gemeinschaft (EG) werden und sah sich durch ein mögliches Veto Italiens –so wie 1967, als es um die EWG-Assoziierung ging – daran gehindert. Südtirol wurde zu einem lästigen Problem, dessen man sich entledigen wollte. Weshalb der österreichische Außenminister Mock verlauten ließ, daß Wien kurz vor Paketabschluß keinen neuen Kurs fahren werde. (Ermacora, a.a.O. S.43/44)

Die SVP, die sich damals am Übergang vom greisen „Vater der Autonomie“ Silvius Magnago zu Kurzzeit-Obmann Roland Riz befand, und der seit April 1989 regierende Landeshauptmann Alois („Luis“) Durnwalder, und der damalige Parteiobmann Silvius Magnago verkündeten im Februar 1991 das Projekt „Südtirol 2000“ mit der „Vollautonomie“ als Ziel. [Der Prozeß war komplizierter: Es gab eine (Strategie-)Gruppe von SVP-Politikern, die – immer unter der Prämisse, daß es sich aufgrund der historischen Umstände zwangsläufig um eine „provisorische“ handle / handeln müsse, denn das (Fern-)Ziel sei die Selbstbestimmung – für das Ziel „Vollautonomie“ plädierte, sozusagen als „Zwischenschritt“. Die verfestigte sich mittlerweile quasi als eine Art Endziel“.]

Deshalb wurde die „Vollautonomie“ gefordert, aber das Selbstbestimmungsrecht als „beständiger politischer Anspruch“ erhoben. Allerdings kann nicht übersehen werden, daß die „Partei“ den Zeitpunkt bestimmt, ob und wann von dem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch gemacht werden soll. (Ermacora, a.a.O. S.62)

„Wäre Magnago imstande gewesen, eine Vision der Selbstbestimmung zu entfalten, das Volk wäre ihm, dem Südtiroler Archetypus, gefolgt und hätte den politischen Kampf aufgenommen. … Soviel steht aber fest: Er wird in die Geschichte der südtirolischen Selbstbestimmung als pragmatischer Autonomie- und Paketpolitiker eingehen, der aber bei der Selbstbestimmungsidee für seine Volksgruppe kein Vorbild war. „Ich bilde mir ein, daß ich immer konsequent war.“ (Die Presse, 27./28. April 1991).“ (Ermacora, a.a.O. S.66/67) Wirklich???

Der Aderlaß des Volkstumsflügels in der SVP

Die gesellschaftlichen Umbrüche in der DDR verursachten auch tiefgreifende Veränderungen in der Südtiroler Volkspartei. Diese galt seit ihrer Gründung im Jahre 1945 als Sammelpartei aller politischen Strömungen. 1989 verließen bekannte Persönlichkeiten wie Alfons Benedikter die Partei. Er war die „rechte Hand Magnagos“ und maßgeblicher Architekt der Autonomie. Er gründete im Herbst 1989 zusammen mit Eva Klotz und Gerold Meraner die „Union für Südtirol“.

Trotz mehrfacher Warnung der mangelnden internationalen Absicherung der Autonomie durch die Völkerrechtler Prof. Matscher und Prof. Ermacora gab Österreich am 19. Juni 1992 vor der UNO eine Streitbeilegungserklärung ab. Diesem Schritt ging eine außerordentliche Landesversammlung der SVP am 30. Mai 1992 voraus. Ein bemerkenswerter Vorfall, der wohl zum Meinungsumschwung der Delegierten führte, war das Auftreten von Roland Riz: Er wies darauf hin, wie sehr Österreich durch Italien unter Druck stünde. Er behauptete, daß das Autonomie-Paket in allen Punkten einklagbar wäre. Als Bekräftigung schwenkte er einen Zettel in der Luft und erklärte, darauf stehe die „internationale Verankerung“ der Autonomie. Diese habe er noch am Vorabend (!) bei der römischen Regierung durchgesetzt. Daraufhin stimmten 82,86% der Delegierten für die Abgabe der Streitbeilegungserklärung durch Österreich. –Roland Riz rühmte sich für diese Tat in der „Neuen Südtiroler Tageszeitung“ vom 3. November 2012. –Ist es purer Zufall, daß Roland Riz 1996 in Rom mit dem „Großkreuz des Verdienstordens der Italienischen Republik“ ausgezeichnet worden ist? Hatte er im Auftrag Roms Einfluß auf die Entscheidung der Sonderlandesversammlung genommen?

Die Empfehlung der SVP zur Streitbeilegung empfanden viele Südtiroler, nicht nur Parteimitglieder der SVP, als endgültige Aufgabe des Selbstbestimmungsrechts. Eine Gruppe führender Jugendfunktionäre um Christian Waldner, Peter Paul Rainer und Pius Leitner spalteten sich von der SVP ab und gründeten am 7. Dezember 1992 „Die Freiheitlichen“ Südtirols.

Felix Ermacora bezeichnete in seinem Buch „Südtirol: Die verhinderte Selbstbestimmung“ Toni Ebner (Senior)  und Karl Zeller als Patrioten. Anton („Toni“) Ebner (Senior) war als Chefredakteur der in Südtirol meinungsbildenden Zeitung „Dolomiten“ zwar der SVP gewogen, für die er jahrelang in der römischen Kammer saß, ließ aber auch die Opposition zu Wort kommen. Zwischen Ebners (Senior) Tod 1981 und 1995 war Dr. Josef Rampold Chefredakteur der „Dolomiten“, und 1995 übernahm der 1957 geborene Toni Ebner die „Schriftleitung“, wie die Chefredakteursposition formell im Blatt heißt. Unter ihm kühlte sich das Verhältnis zur Opposition stark ab. „Diese Ausnahmestellung bringt dem Medium aufgrund seiner betont an der SVP und an der Diözese Bozen-Brixen – gleichzeitig Miteigentümerin des Verlagshauses Athesia – orientierten und abweichende Meinungen ausgrenzenden Linie häufig Kritik ein.“, wie es bei Wikipedia heißt.

Felix Ermacora bedauerte in seinem Buch, daß Karl Zeller, Mitglied der SVP und Völkerrechtsexperte, von Luis Durnwalder nie zu Verhandlungen mit Rom und Wien mitgenommen wurde. Allerdings ist Zeller längst kein Patriot mehr. Er ist in den letzten Jahren nicht müde geworden, jede Forderung nach Selbstbestimmung als „unrealistisch“ abzulehnen. Ist er zum Fluch für Südtirol geworden? –Auf einem Treffen der SVP-Delegation in Rom mit Regionenminister Delrio im September 2013 drängte er Durnwalder ein Toponomastik-Abkommen zu unterzeichnen, das der Landeshauptmann zwei Jahre zuvor so nie unterschrieben hätte.

Der Prozeß der Verdrängung des volkstumspolitischen Flügels in der SVP begann Anfang der 1960-er Jahre mit der Bildung der „Gruppe Aufbau“. [Aus dieser Gruppe gingen später auch die „Strategen“ der „Vollautonomie“ hervor!] –Ihre Mitglieder gehör(t)en zumeist dem Wirtschaftsflügel der Partei an und waren / sind – bis auf wenige Ausnahmen – betont italien- und wirtschaftsfreundlich. Noch auf der SVP-Landesversammlung im Jahre 1962 wurde diese Gruppierung kritisiert. „Die große Mehrheit der Delegierten verurteilte das Vorgehen dieser Gruppe…“ schrieb Egmont Jenny am 25.04.1963 in den „Südtiroler Nachrichten“. Es wurden immer mehr Verbandsfunktionäre und Vereinsfunktionäre in die Kandidatenliste der SVP aufgenommen, um Verbände und Vereine als Vorfeldorganisation der SVP zu mißbrauchen. Der Plan ist aufgegangen: Zu Wahlkampfzeiten geben diese noch heute Wahlempfehlungen für die SVP ab. Arbeitnehmer unterbrechen ihre Arbeit, wenn ein Kandidat der SVP im Betrieb Wahlkampfwerbung betreiben will…

Der volkstumspolitische „Kitt“, der einst die Stärke der SVP ausmachte und aufgrund dessen es möglich war, sämtliche Stände und Interessensgruppen zu vereinen und auf ein gemeinsames Ziel einzuschwören, nämlich den Erhalt des deutschen und ladinischen Volkstums in Südtirol, wurde sträflich vernachlässigt. Dies führte zu einer Spirale des Egoismus, der in den Skandalen der heutigen Zeit endete und zu einer Selbstbedienungsmentalität unter den SVP-Mandataren, die unter Magnago und Benedikter niemals möglich gewesen wäre.

Dieser Lobbyismus / Klientelismus und Provinzialismus hat seine Kehrseite: Durch die Einführung des Euros sind die Volkswirtschaften aller Länder miteinander vergleichbar. Plötzlich gibt es die -nach der politischen Propaganda „überwundene“ („Schand“-)Grenze am Brenner wieder. Sie trennt ein Gebiet, in dem die Wirtschaft bevormundet und geschröpft wird und in der ein ganz unumwundener Nepotismus herrscht, von einem Gebiet, in dem die Wirtschaft sich relativ frei entfalten kann. Darauf hat die SVP, die sich allem Anschein nach immer mehr von den Bedürfnissen und Interessen der Bevölkerung entfernt(e), offensichtlich keine Antwort.

Der volkstumspolitische Flügel der SVP ist in der Bedeutungslosigkeit versunken. Bekannte Rudimente dieser Fraktion sind noch (die längst politisch funktionslosen) Sepp Mayr, Oswald Ellecosta und Franz Pahl…

Die jetzige SVP wird bestimmt von Politikern und Funktionären, die unbedingt bei Italien bleiben wollen, sich mit dem jetzigen Zustand abgefunden haben und / oder die SVP und Südtirol lediglich als ihren Selbstbedienungsladen betrachteten.

Auseinandersetzung mit einem Positionspapier der SVP

In der Öffentlichkeit und bei Wahlen spricht die SVP immer wieder von der „Vollautonomie“ als Fernziel. Dieses Schlagwort suggeriert den politisch Unbedarften, als hätte Südtirol dann alle Kompetenzen. –In einem (undatierten) Positionspapier „Auf dem Weg zur Vollautonomie“ geht die SVP näher darauf ein, was sie darunter versteht: Südtirol soll alle Kompetenzen bekommen außer Außenpolitik, Verteidigung, Währung und Gerichtsbarkeit.

Bei Wikipedia finden wir unter dem Schlagwort „volle Autonomie“: „Volle völkerrechtliche Autonomie (Souveränität) genießt ein Staat, der keiner Gesetzgebung, Exekutive und Rechtsprechung außerhalb seiner selbst untersteht.“

Damit ist die von der SVP ins Auge gefaßte und als Ziel propagierte „Vollautonomie“ in Wirklichkeit nur eine Teilautonomie, man könnte auch sagen eine Schimäre!

„Die Südtiroler Volkspartei redet nicht einer unrealistischen Grenzverschiebung oder gar einer Neuerrichtung von Grenzen in Europa das Wort: wir wollen den erfolgreichen Weg der Autonomie konsequent weiter beschreiten.“, heißt es in besagtem Positionspapier. –Hierbei wird die Tatsache verschwiegen, daß die Delegation der Bundesrepublik Deutschland (BRD) 1975 in weiser Voraussicht in die Helsinki-Schlußakte den Passus einarbeiten ließ, daß Grenzen auf friedlichem Wege verschoben werden können. (Ermacora, a.a.O. S.23/36)

Bestandsaufnahme der „weltbesten Autonomie“ Südtirols

Zwischen 1992 und 2001 gab es eine Phase in der Autonomie, in der die Südtiroler weitgehend von Rom in Ruhe gelassen worden sind, sogar in der Regierungszeit Berlusconis. Die italienischen Nationalisten und Faschisten befanden sich anscheinend noch in einer gewissen Schockstarre.

Mit der Verfassungsreform von 2001 sollten eigentlich die Dezentralisierung vorangetrieben und Kompetenzen des Staates auf die Regionen übertragen werden (Devolution). Die in der italienischen Öffentlichkeit gefeierte Reform mag zwar für Provinzen bzw. Regionen mit Sonderstatut ein kleiner Fortschritt gewesen sein, aber für die Autonome Provinz Bozen-Südtirol war sie ein herber Rückschlag. Diese Reform weist untrüglich die Handschrift von Zentralisten auf. Südtirol verlor durch das Verfassungsgesetz Nr. 3/2001 zwei wesentliche Kompetenzen: „grundlegende Befugnisse der Gemeinden, Provinzen und Stadtmetropolen“ und den Landschaftsschutz.

Der Verfassungsrechtler Roland Riz (SVP) untersuchte die neue Verfassung. In seinem diesbezüglichen Buch „Grundzüge des Italienischen Verfassungsrechts unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Aspekte der Südtiroler Autonomie“ heißt es auf Seite 360: „So kann der Staat, unter Bezugnahme auf seine ausschließliche Zuständigkeit (Art. 117 Abs. 2 Verf.) allen Regionen und den Autonomen Provinzen auch in wesentlichen wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Bereichen, eventuell auch durch Ausübung der Ersatzgewalt (Art. 120 Verf.) seinen Willen auferlegen. Mit dieser Begründung werden Eingriffe des Staates auch in Befugnisse des Landes Südtirol und der Region Trentino-Südtirol immer häufiger, das heißt, es kommt zwangsläufig zu einer Interessenkollision Staat-Region-Land. Dabei darf nicht vergessen werden, dass im Falle einer „Kollision“ zwischen dem Staat, der Region und / oder den Autonomen Provinzen der Verfassungsgerichtshof darüber entscheidet, ob Staatsrecht oder Landesrecht Vorrang hat, und bei den transversalen Werten der Verfassungsgerichtshof fast immer die Auffassung vertritt, dass es bei den meisten in Artikel 117 Abs. 2 enumerierten ausschließlichen Zuständigkeiten des Staates nicht so sehr um eine „Materie“ oder eine „Befugnis“ geht, sondern um einen „ausschließlichen gesamtstaatlichen Zweck“ (vormals „nationales Interesse“), der mittels vorrangiger Zuweisung dieses Aufgabenbereiches an den Staat erreicht wird.“ –Daraus folgt: Bei einer gerichtlichen Auseinandersetzung zwischen der Region Trentino-Südtirol bzw. der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol und dem Staat zieht fast immer die Region / Provinz den Kürzeren.

Die ausschließliche Zuständigkeit des italienischen Staates erstreckt sich gleich einem Krebsgeschwür bis in die letzte Verästelung der Südtiroler Gesellschaft bzw. bis in den entlegensten Winkel Südtirols. Sie stellt praktisch eine Schranke für die „primären Kompetenzen“ der Regionen und Regionen mit Sonderstatut dar. Nachfolgend eine schier endlos erscheinende Liste der Zuständigkeiten des Staates: „Schutz der Spartätigkeit“, „Schutz des Wettbewerbs“, „Finanzausgleich“, „öffentliche Ordnung“, „Sicherheit“, „Personenstandsregister und Melderegister“, „Festsetzung der wesentlichen Standards für die Leistungen auf dem Gebiet der bürgerlichen und sozialen Rechte“, „allgemeine Bestimmungen über den Unterricht“, „soziale Vorsorge“, „grundlegende Befugnisse der Gemeinden, Provinzen und Stadtmetropolen“, „Koordinierung der statistischen Information“, „Umweltschutz“ und „Schutz des Ökosystems und der kulturellen Werte“. –Bei dieser Allmacht des Staates hätte Ettore Tolomei seine Freude!

Die Freiheitlichen kritisieren, daß im Zuge der Verfassungsreform auch eine Reform des Verfassungsgerichtshofs hätte stattfinden müssen (paritätische Besetzung der Richterstellen zwischen Region / Autonome Region und dem Staat).

In der SVP entbrannte ein Streit zwischen dem Verfassungsrechtler Roland Riz und dem Völkerrechtler Karl Zeller. Zeller ist der Überzeugung, daß in der Summe die Autonomie einen Zuwachs an Kompetenzen erlebt hat. Es hätten einige Garantien herausgeschlagen werden können, argumentierte er. Hätte die SVP dieser Reform nicht zugestimmt, so Zeller, „würde der Regierungskommissar heute noch über das Inkrafttreten der Landesgesetze entscheiden.“ Viele der oben genannten Kompetenzen seien schon immer dem Staat vorbehalten gewesen. –Durnwalder tönte in einem Interview am 26. April 2012 gegenüber der „Neue Südtiroler Tageszeitung“: „Rom kann uns nichts wegnehmen, ohne dass Österreich interveniert!“ Aber am 9. Juli desselben Jahres zitierten die „Dolomiten“ den Landeshauptmann mit den Worten: „Unsere Autonomie wird langsam mit Füßen getreten!“ –Für die italienischen Politiker ist der „sacro egoismo“ (der heilige Eigensinn) wichtiger als irgendwelche lästigen Verträge. Das müßte eigentlich auch das letzte SVP-Mitglied begriffen haben. Außerdem besteht das Autonomiepaket nicht nur aus Verfassungsgesetzen, sondern auch aus Durchführungsbestimmungen zum Statut, zu Staatsgesetzen und Verordnungen. Diese können von jeder Regierung gekippt werden. Und die durchschnittliche Lebenszeit einer italienischen Regierung ist, so spötteln viele, geringer als die Tragzeit eines Hausesels (12 bis 14 Monate)… Die Tatsache, daß fast alle Kompetenzen noch immer in der Hand des Staates sind, beweist, daß das Ziel der Reform, eine Föderalisierung Italiens voranzutreiben, gescheitert ist.

Resultierend aus den gegensätzlichen Meinungen von Riz und Zeller hatte die Landesregierung am 27.05.2013 dem Innsbrucker Universitätsprofessor Walter Obwexer den Auftrag erteilt, eine Expertise zu erstellen, welche Auswirkung die Verfassungsreform von 2001 auf die Südtiroler Autonomie habe. –Gegen Ende des Jahres 2014 dürfte Prof. Obwexer seine Arbeit abgeschlossen haben. –Ob die SVP das Gutachten lautlos in die Schublade verschwinden lassen wird, falls es Riz´ Auffassung und die Meinung vieler Südtiroler bestätigt?

Die Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis

Weil die Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis (AKB), um die es auf besagter außerordentlicher Landesversammlung der SVP (s. o.) mit Vehemenz ging, trauriger Bestandteil der „weltbesten Autonomie“ ist, so soll sie im Folgenden wegen ihrer enormen Bedeutung gesondert betrachtet werden.

Die AKB wurde in Italien 1970 offiziell für normale Provinzen und 1973, also ein Jahr nach Inkrafttreten des Zweiten Autonomiestatuts, auch für die autonomen Regionen eingeführt. (Ermacora, a.a.O. S.120) Damit sollen das „nationale Interesse“ und ein zentralistisches Handeln des Staates gesichert werden. Im Staatsgesetz Nr. 400 vom 23.08.1988, Art. 2/3 d wurde die AKB neu geregelt. Am 06.10.1988 beschloß der Regionalrat Trentino-Südtirol, dieses Gesetz anzufechten. Der Verfassungsgerichtshof erachtete die AKB als rechtens, lediglich die Annullierung von Verwaltungsakten der Regionen sei unzulässig (Urteil Nr. 229 und 230 vom 13.04.1989). –Silvius Magnago sagte dazu auf besagter SVP- Landesversammlung von 1991: „Das einzige wirksame Instrument, um diese Befugnis der Regierung in unserem Land voll außer Kraft zu setzen, wäre ein Verfassungsgesetz.“

Oskar Peterlini, wie Riz ehemaliger SVP-Politiker im römischen Senat, schrieb hierzu in seiner Doktorarbeit „Föderalismus und Autonomien in Italien“ auf Seite 135: „Erzielt wurde eine Durchführungsbestimmung, die zwar keine Abschaffung, aber zumindest eine Eingrenzung dieser AKB für die Region Trentino-Südtirol vorsieht (Legs D vom 16.3.1992 Nr. 266). Einmal wird in den Prämissen Bezug auf den Pariser Vertrag genommen und somit erfolgt erstmals in Durchführungsbestimmungen eine direkte Anbindung an diesen internationalen Vertrag geknüpft, ein wichtiger Aspekt, der die internationale Verankerung der Autonomie unterstreicht. Weiters wurden zum Schutze der primären und sekundären Befugnisse des Landes „Bremsklötze“ eingebaut. Diese bestehen im Wesentlichen darin, dass die Koordinierungsmaßnahmen der Regierung nicht wie in den übrigen Regionen automatisch in Kraft treten, sondern dem Regionalrat und Landtag sechs Monate Zeit gegeben wird, die eigenen Gesetze entsprechend anzupassen. Erfolgt diese Anpassung durch den Regionalrat bzw. Landtag nicht, hat die Regierung drei Monate Zeit, die Gesetze des Regionalrates bzw. Landtages beim Verfassungsgerichtshof anzufechten. Diese Einschränkungen bedeuten damit keineswegs eine Abschaffung der AKB und können auch die Wirksamkeit (trotz der „Bremsklötze“) kaum reduzieren, sondern nur verzögern. Was im übrigen Italien direkt per AKB wirksam wird, wirkt in Südtirol indirekt auf den Landesgesetzgeber, der sich einfach anpassen muss. Tut er es nicht, kann die Regierung vor den Verfassungsgerichtshof gehen.“

Gründe, warum die „Vollautonomie“ nie erreicht wird

In der Manier der einstigen Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) stellt die SVP die Opposition und alle Kritiker an den Pranger: Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns, der ist ein Feind der Autonomie! Diese Art der Auseinandersetzung läßt eigentlich keine sachliche Diskussion über die Zukunft Südtirols zu. Die Frage darf nicht heißen: „Bist Du gegen die (Voll-)Autonomie?“, sondern „Warum bist Du dagegen?“

Nachfolgend werden Argumente genannt, die begründen sollen, warum die „Vollautonomie“ nie erreicht wird.

1)    Die fortbestehende Existenz der Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis (AKB)

2)    Die Existenz des Gesetzes der ausschließlichen Zuständigkeiten des Staates (Art. 117, Abs. 2 Verf.)

3)    Der „Sacro Egoismo“ Roms

4)    Südtirol erhält von Rom für getroffene Übereinkünfte immer weniger Zugeständnisse. –Bei der SVP ist keine rote Linie zu erkennen, bis wie weit sie einen Vertragsbruch seitens Rom toleriert. Anstatt sich auf dem Rechtsgrundsatz „clausula rebus sic stantibus“ zu berufen (Wenn sich die Verhältnisse ändern, muß auch der Vertrag neu verhandelt werden.), der auch eine Ausübung des externen Selbstbestimmungsrechtes rechtfertigen würde, hört man von der SVP immer neue Treueschwüre. Daher besitzt Südtirol auch keinerlei Druckmittel.

5)    Durch das jüngst von Berlusconi und Renzi ausgehandelte neue Wahlgesetz „Italicum“ haben kleine Parteien auf kurz oder lang keine Überlebenschance. –Einst dachte die SVP-Führung über eine italienische Tochterpartei nach. Seit Januar 2013 ist die SVP durch eine Wahlübereinkunft sowie seit Dezember 2013 durch einen für die Südtiroler Landesregierung geltenden Koalitionsvertrag mit dem Partito Democratico (PD) in ihrem Handeln eingeschränkt. –Könnte sich die SVP eines Tages unter die Fittiche der PD begeben?

6)    Die Zahlungsverpflichtungen Südtirols an Rom (Koalitionsvertrag mit dem PD und dem aus dem von Rom nicht eingehaltenen Mailänder Abkommen unter Durnwalder und Letta hervorgegangenen Bozner Abkommen) schnüren den Handlungsspielraum der Autonomen Provinz Südtirol immer mehr ein. Im Internetforum „Brennerbasisdemokratie“ ist davon die Rede, daß jeder Tag, den Südtirol in Italien bleibt, 6 Millionen Euro kostet!

7)    Die Reformunfähigkeit Roms gefährdet die Wirtschaft Südtirols.

8)    Die Ergebnisse der in regelmäßigen Zeitabständen abgehaltenen Befragung nach der Volksgruppenzugehörigkeit können nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Uhr gegen die deutsche Volksgruppe in Südtirol tickt (Zuwanderung, Verlust der Tiroler Identität). In 10 bis 20 Jahren wird es wohl kaum eine Mehrheit mehr geben, die für die Ausübung des (externen) Selbstbestimmungsrechts stimmt. In ein bis zwei Generationen werden wir in Südtirol Verhältnisse vorfinden wie momentan im Aostatal, im Elsaß und in der Niederlausitz. –Vor etwas mehr als 100 Jahren schrieb der sorbische Dichter Jakub Bart-Cisinski noch optimistisch:

Unser Land ist wirklich klein, mein Freund,
klein auch unser Volk, das sorbische, wie
ein winzig Inselchen, vom Meer umspült.
Und doch, ich glaub´ es fest, niemals
Werden seine Wogen überfluten,
unsern Erdstrich, Dörfer nicht und Höfe…
(Mein sorbisches Bekenntnis)

Heute stehen die Sorben auf der roten Liste der bedrohten Völker…

„Vollautonomie“ – Irrweg oder Täuschung des Volkes?

Südtirol mit seinen knapp 510.000 Einwohnern ist ein kleines Land. Man sollte eigentlich meinen, daß seine Regierung besonders transparent agiert und sich eng an das Südtiroler Volk anlehnt. Doch weit gefehlt! Die SVP bewegt sich offenbar unaufhaltsam auf die Form einer Ständepartei zu; hat zwar sehr gute Kontakte zu den Spitzen der Südtiroler Verbände und Vereine, jedoch ist ihr die Bodenhaftung und die Verbindung zum eigenen Volk abhanden gekommen.

Seit Durnwalder Landeshauptmann wurde (1989), gehören das Entscheiden im Verborgenen sowie quasi absolutistisches Gehabe zum Regierungsstil. –Auf der SVP-Landesversammlung im März 2012 wurde das von einigen Delegierten kritisiert. Jedoch hat sich daran bis heute nichts geändert; vieles sollte dem Volk vorenthalten bleiben: der Inhalt des Koalitionsvertrags mit dem Partito Democratico (PD), die zum Zwecke der Landtagskandidatur vollzogene Blitzeinbürgerung der Schwedin Marie Måwe, das Durnwalder-Letta-Abkommen in Nachfolge des Mailänder Abkommens, die neue Toponomastik-Regelung und die Auszahlung von Pensionsvorschüssen. Bis heute läßt die SVP ihr Volk im Unklaren, welche finanziellen Belastungen aufgrund des Koalitionsvertrags und des Durnwalder-Letta-Abkommens auf die Südtiroler zukommen.

Die Verteufelung der Kritiker von SVP und deren (Voll-)Autonomie sowie die Intransparenz sollen eine sachliche Diskussion über die Zukunft des Landes und Volkes verhindern.

Die SVP-Führung weiß sehr wohl, daß die „Vollautonomie“ nie erreicht wird. Sie hat zweifelsohne kluge Köpfe in ihren Reihen bzw. sie hat die Möglichkeit, solche zu konsultieren. Das Schlagwort „Vollautonomie“ wird nur deshalb immer wieder erwähnt, um Geschäftigkeit vorzutäuschen (Stillstand ist Rückschritt!). Indes sorgt die SVP-nahe Zeitung „Dolomiten“ für gute Stimmung, wiewohl kein substantieller Fortschritt zu vermelden ist. So erschien darin am 25.02.2014 ein Artikel „Außergewöhnlich breiter Raum für die Autonomie“. –Über den Inhalt möge sich jeder selbst ein Urteil bilden…

Die führenden Köpfe der SVP wollen aus vielerlei Gründen bei Italien bleiben. Entscheidend sind daher weniger ihre Worte, sondern ihre Taten. Durch Täuschung und Verschweigen von Tatsachen verhindert die SVP, daß die Südtiroler ihr ureigenstes Recht auf Selbstbestimmung wahrnehmen können. Das Schicksal ihres eigenen Volkes ist ihr egal.

Und Schlag auf Schlag! Werd ich zum Augenblicke sagen:

Verweile doch! Du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zugrunde gehn!
Dann mag die Totenglocke schallen,
Dann bist du deines Dienstes frei,
Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen,
Es sei die Zeit für mich vorbei!

(Johann Wolfgang von Goethe, „Faust“)                         Faust besiegelte den Pakt mit dem Teufel…

Wolfgang Schimank
Berlin, den 18.03.2014

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