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Dem Volk aufs Maul schauen! Abrechnung mit Achammer und Kurz

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Am 27. Jänner 2013 feierte man den 650. Jahrestag der Zugehörigkeit Tirols zu Österreich, genauer gesagt, es feierten die politisch Regierenden Österreichs und Südtirols sich selbst.

Ähnlich vom Volk abgehoben ging es auf der Veranstaltung der Südtiroler Volkspartei (SVP) am 3. Mai 2014 zu, bei der sich auch Sebastian Kurz, der Außenminister Österreichs, ein Stelldichein gab. Trotz der Selbstbestimmungsreferenden in Südtirol und in Venetien, die beachtliche Ergebnisse zu Tage gebracht haben und Roms „sacro egoismo“, der zur Verstümmelung der „weltweit besten“ Autonomie Südtirols führte, verleugnen die SVP und Außenminister Kurz das Selbstbestimmungsrecht der Völker, beschimpfen die Aktivisten als „Ewiggestrige“ und heben die „Vollautonomie“ als einzig gangbaren Weg hervor. –Wären der neue SVP-Obmann Philipp Achammer und sein Freund Sebastian Kurz noch zur Schule gegangen, dann würde die strenge Lehrerin sagen: „Wir haben es hier mit zwei lernunwilligen* Schülern zu tun!“

Ist diese Politik nicht geprägt von einem Kurzzeitgedächtnis, was die Vergangenheit betrifft, und einer Kurzsichtigkeit, was die Zukunft angeht? Diese „Hier und jetzt!“-Mentalität mag zwar dem Zeitgeist vieler, aber nicht aller junger Menschen entsprechen, für den Politiker sollte eigentlich dieses Verhalten tabu sein. Was die Selbstbestimmung betrifft, ist das italienische Staatsvolk Außenminister Kurz bereits einen Schritt voraus. Laut einer neuesten Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes DEMETRA aus Mestre befürworten 71,8% der (befragten) Italiener, daß die Südtiroler das Recht auf Selbstbestimmung ausüben sollen.

Außenminister und Noch-Jurastudent Kurz würde sein Weltbild ungemein erweitern, wenn er auch Kontakt mit Andersdenkenden aufnehmen und die Literatur seines Parteigenossen und Völkerrechtler Prof. Felix Ermacora studieren würde.

Das Unverständnis Wiens für Tirol

Das Bundeskanzleramt in Wien liegt nur einen Steinwurf von der Minoritenkirche entfernt. Es dürfte nur ein geringer Anteil der in der Machtzentrale Österreichs arbeitenden Mitarbeiter wissen, was die Minoritenkirche mit Tirol und Österreich zu tun hat. Man könnte auch Wetten über den Wissensstand der Mitarbeiter im Außenministerium abschließen… (Zur Information: In dieser Kirche wurde Margarete von Tirol-Görz (1318 bis 1369), die letzte Regentin eines freien und unabhängigen Tirols, begraben. Durch einen Geheimvertrag mit Rudolf IV. von Habsburg gelangte 1363 Tirol an Österreich.)

Das Verhältnis zwischen Wien und Innsbruck / Bozen hat Höhen und Tiefen erfahren. Wenn wir die Leistung von Bruno Kreisky ausklammern (Auftritt vor der UNO), dann ist das Verhältnis seit 1918 so, als wäre (Gesamt-)Tirol auf einem anderen Stern. -Nur so ist vielleicht auch das dilettantische diplomatische Geschick Wiens gegenüber Rom und der fehlende eiserne Wille, sich für Südtirol einzusetzen, zu erklären. –Der einstige Landeshauptmann Nordtirols, Eduard Wallnöfer (1913 bis 1989), würde es diplomatischer und abwägender ausdrücken: Er habe den Wienern in vielen Nachhilfestunden klar gemacht, daß Tirol anders ist, und mit einem Schmunzeln nahegelegt, daß es wichtiger und interessanter sei. Die Wiener hätten da immer gelacht. Aber ob sie es auch wirklich verstanden haben??? Zweifel sind angebracht. Glaubwürdigkeit tut not. Hierzu ein kleines Beispiel: Seit den Zeiten Maria Theresias ziehen Wanderhändler aus dem deutschspachigen Fersental in Welschtirol durch das ganze Tirol. Seit 1918 ist Schluß damit. Ihre Verkaufstour endet am Brenner. Es ist schon kurios: Während Italien das Wanderhandelpatent von Maria Theresa anerkennt, verweigert Österreich diesem die Anerkennung!

Die Tiroler Identität und ihre Feinde

Tirol hatte Jahrhunderte lang eine Sonderstellung im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und zeitweise in Österreich-Ungarn gehabt. Seit 1945 ist es jedoch damit vorbei. –Prof. Pernthaler schrieb in seinem Aufsatz „Die Zukunft der Tiroler Identität in Europa“ auf Seite 6: „Hinzuweisen ist zunächst auf den fehlgeschlagenen Versuch, in einem besonderen „Statut“ (Vision Tirol 2000) eine rechtliche Sonderstellung Tirols zu begründen, die seiner besonderen Situation im Zusammenhang mit der Teilung des Landes entsprochen hätte. Der Bund wies jeden Versuch, den Bundesstaat Österreich durch eine Sonderstellung einzelner Länder aufzulockern, brüsk zurück.

Auch die „Strukturreform des Bundesstaates“, welche die Länder als Bedingung für den EU-Beitritt gefordert hatten, scheiterte trotz einer verbindlichen Zusage des Bundes.

Ob aus dem jüngst einberufenen „Österreich-Konvent“ eine Stärkung des Föderalismus hervorgeht, scheint nach den politischen Vorgaben eher zweifelhaft. Keinesfalls wird man eine Stärkung der notwendigen Sonderstellung Tirols erwarten können.“

In Südtirol ist die Autonomie durch Zentralisierungsbestrebungen Roms zumindest teilweise gefährdet. Der SVP / PD –Senator Francesco Palermo sagte am 08.05.2014 in einem Interview mit der „Neuen Südtiroler Tageszeitung“ bezüglich der Verabschiedung eines „Basistextes“ zur Reform des Senates auf die Frage „Worauf ist aus Südtiroler Sicht zu achten?“ wörtlich: „Der Text ist nicht perfekt. Wir hätten jenen von Calderoli bevorzugt. Wir können allerdings nicht mehr erreichen, als dass die Schutzklausel hineinkommt. Der Staat geht dramatisch in Richtung Zentralismus. Wir sind aber zu klein und zu irrelevant, um das zu verhindern. Unsere letzte Chance besteht darin, uns mit der Schutzklausel und einem neuen Statut abzusichern.“

Gesamt-Tirol befindet sich gewissermaßen in der Zange durch Wien und Rom. Tirol ist Kummer gewohnt. Diese unheilige Allianz hat es in der Geschichte Tirols leider schon öfters gegeben. Erinnert sei an die Zeit des Austrofaschismus, als Österreich glänzende wirtschaftliche Beziehungen zu Italien hatte. Der Preis dafür war das Schweigen zur Teilung Tirols und zur Unterdrückung der Südtiroler. Erinnert sei auch an den Landesfestzug am 20.09.2009 in Innsbruck. Es gab ein Geheimabkommen zwischen Rom und Wien (Frattini-Spindelegger-Khol-Platter). Dabei ging es darum, zu verhindern, daß die Dornenkrone, als Symbol der Teilung Tirols, und Plakate wie „Los von Rom“ öffentlich zur Schau getragen werden. Dieser Plan mißlang…

Durch den EU-Beitritt und die „Relativierung der Brennergrenze“ hatte man besonders in Tirol eine hohe Erwartungshaltung bezüglich der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und der Wiedergeburt einer Tiroler Identität.

Prof. Pernthaler schrieb auf den Seiten 5 und 6 seines Aufsatzes: „Bald stellte sich aber heraus, daß dieser Optimismus der Regionen im Zusammenhang mit der Entwicklung der EU nicht begründet war. Der zunehmenden politischen und rechtlichen Ohnmacht der Regionen gegenüber dem europäischen Zentralismus in Brüssel entsprach gleichzeitig eine Stärkung der Nationalstaaten durch ihre Mitgliedschaft in den Entscheidungsorganen der EU.

Dazu kommt in Südtirol das Bewusstsein einer zunehmenden Gefährdung der Autonomie durch „europäische Freiheiten“, vor allem im Zusammenhang mit dem Schutz der Volksgruppe gegenüber Zuwanderung und dem ethnischen Proporz.“

Zudem torpediert die SVP eine Zusammenarbeit mit Nord- und Osttirol, indem es parallele Strukturen aufbaut und bestehende nicht oder nur zögerlich abbaut, z. B. bei der Zusammenarbeit der Universitäten, beim Flughafen usw…. So kann keine gemeinsame Identität aufgebaut werden!

Während die Süd-Tiroler Freiheit bei einer Wiedervereinigung mit Nord- und Osttirol / mit Österreich freudig ihre Auflösung beschließen würde, ist das für die SVP ein Schreckensszenario. Sie befürchtet, dann in die Bedeutungslosigkeit zu versinken, schließlich gibt es in Österreich Ersatz: die Mutterpartei, die Österreichische Volkspartei (ÖVP). Außerdem wäre sie dann gezwungen, transparenter zu arbeiten. Deshalb stemmt sich diese Partei gegen jede Veränderung in Richtung Unabhängigkeit von Italien. Der SVP geht es jedenfalls machtpolitisch in Italien sehr gut. Sie braucht geradezu den „kalten Wind aus Rom“. Das schließt trotz aller Querelen innerhalb und außerhalb der Partei die Südtiroler Reihen…

Abrechnung mit der SVP / „Dolomiten“

Die politischen Verhältnisse in Südtirol sind für viele Interessierte aus dem Ausland schwer zu verstehen. Umso mehr reiben sie sich verwundert die Augen, daß die SVP, obwohl sie in regelmäßigen Abständen Skandale produziert, immer wieder gewählt wird. (Sie ist seit 1948 ununterbrochen an der Macht! Bei den jüngsten Landtagswahlen im Oktober 2013 verlor sie allerdings zum ersten Mal die absolute Mehrheit und stellt nur noch 17 von 35 Abgeordneten im Südtiroler Landtag.) Wie kann das sein? –Es ist gewiß nicht die allumfassende Erklärung dafür: Zum einen gibt es eine wachsende Unzufriedenheit mit der SVP. Am Stammtisch wird heftig geschimpft. Letztendlich fehlt dem Südtiroler in der Wahlkabine oft der Mut, mit seinem Kreuz eine gravierende Änderung herbeizuführen. Ihm geht es anscheinend immer noch zu gut.**

Zum anderen spielt das „System SVP“, oder auch „System Südtirol“ genannt, eine entscheidende Rolle. Ein sehr bedeutender Mosaikstein dieses Systems ist die Presse. Der SVP- und Rom-treue Athesia-Verlag mit seiner in Südtirol sehr dominierenden Tageszeitung „Dolomiten“ bestimmt, was der Leser als „Wahrheit“ zu verstehen hat. Diese Zeitung stellt die SVP-Exponenten und prominente Befürworter über Gebühr ins Rampenlicht der Öffentlichkeit und fährt einen restriktiven Kurs bei (SVP-)kritischen Leserbriefen. Gleichwohl nimmt die „Dolomiten“ SVP-Vertreter, die ihr distanziert gegenüberstehen, meist kritisch, teilweise sogar feindselig, unter die Lupe. An der Autonomie-Front werden Erfolge gefeiert, obwohl keine zu vermelden sind. So heißt es zum Beispiel am 25.02.2014 „Außergewöhnlich breiter Raum für die Autonomie“. Das erinnert schon ein bißchen an Potjomkinsche Dörfer.*** Die Redaktion der „Dolomiten“ schafft es auf äußerst geschickte Weise, die Wut der Bürger auf die SVP zu dämpfen bzw. sie zu kanalisieren. Doch auch hier gibt es Ausnahmen. Findet sie einen Anlaß, mit dem sie die Auflage steigern kann, so geht sie auch rücksichtslos gegen die SVP vor und veranstaltet regelrecht Kampagnen, wo sie die einen gegen die anderen ausspielt. Grundsätzlich ist die „Dolomiten“ jedoch strikt konservativ, auf ihre finanziellen und wirtschaftlichen Interessen bedacht, denen sie meist alles unterordnet. Bei der Affäre um die Rentenvorschüsse steht zwar auch die SVP unter Beschuß, weit mehr aber die Opposition, obwohl sie nicht in der Regierung ist! Es sei daran erinnert, daß die Landtagsabgeordneten der kleineren Oppositionsparteien einen großen Teil ihres persönlichen Einkommens in ihre Parteien stecken.**** Das ist eine publizistische und psychologische Meisterleistung! –Viele Südtiroler werfen dem einstigen SVP-Obmann Roland Riz vor, er habe 1996 das „Großkreuz des Verdienstordens der Italienischen Republik“ für das Täuschungsmanöver bekommen, wodurch am 30.05.1992 die Abgeordneten der SVP-Landesversammlung mehrheitlich für die Abgabe der österreichischen Streitbeilegungserklärung mehrheitlich gestimmt haben. –Sollte man den Athesia-Verlag bzw. die Redaktion der „Dolomiten“ für ihre Rom-Treue nicht auch für diesen Orden vorschlagen?

Dem Volk aufs Maul schauen

Der SVP ist im Laufe der nun fast 70-jährigen Regierungszeit (seit 1948 ist sie ununterbrochen an der Macht) die Bindung zum Volk verloren gegangen. In diesem Zusammenhang möchte ich einen Zeitsprung in das 16. Jahrhundert machen und daran erinnern, was Martin Luther (1483 bis 1546) tat, bevor er die Bibel übersetzte:

Martin Luthers größter Verdienst war die Übersetzung der Bibel ins Deutsche und die Schaffung einer gemeinsamen Sprache zwischen Etsch und Nord- / Ostsee, das Hochdeutsch. –„Die Texte der Heiligen Schrift waren in Griechisch und Lateinisch gehalten. So war es schon immer, so entsprach es den Amtssprachen der katholischen Kirche und sollte es nach kirchlichem Willen immer bleiben. Denn keinesfalls sollten die von der Kirche als gefährlich erachteten Texte der Bibel von den Christen in jener Zeit gelesen werden. Was konnte nicht alles an Missverständnissen und eigenwilligen Interpretationen in die Texte hineingelesen werden. Nur durch die ordnende, lenkende Anleitung des mit der Lehrmeinung der Kirche konformen Klerikers sollten die heiligen Texte an die Menschen weitergegeben werden.“ … „Dem konnte Luther nichts abgewinnen. Im Gegenteil. Jeder sollte in Luthers Augen Zugang zur Bibel haben, jeder sollte in der heiligen Schrift Gottes lesen dürfen. Doch es war nicht nur Luthers liberale Auffassung über den Zugang des einfachen und ungebildeten Volkes zu den Bibeltexten, die revolutionär war. Denn Luther übersetzte die Bibel nicht nur, er legte sie in seiner Übersetzung aus, deutete sie in den Alltag der Menschen seiner Zeit hinein. „Dem Volk aufs Maul schauen“, nannte Luther das. Es ging ihm nicht darum, den Text in ein vulgäres Deutsch zu übertragen, wie man es in den Gassen seiner Zeit sprach. Aber es ging Luther sehr wohl darum, eine Ausdrucksweise zu finden, deren Worte und Bildhaftigkeit von jedem Deutschen, egal welcher persönlicher Bildung, verstanden werden konnten. Deswegen übertrug er schwer verständliche Vergleiche und Bilder der Heiligen Schrift, die in der Welt der Beduinen und des israelischen Volkes ihren Ursprung hatten, in die Lebenswirklichkeit der Menschen seiner Zeit.“ (Wikipedia, „Die Luther-Bibel“) –Es gibt einige Anekdoten, wie Martin Luther die Leute auf der Straße und Handwerker der verschiedensten Gewerke beobachtete und sie befragte. Die übersetzte Bibel verbreitete sich Dank der Erfindung des modernen Buchdrucks durch Johannes Gutenberg (1400 bis 1468) wie im Flug im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Es war gewissermaßen das erste gesamtdeutsche Kulturerlebnis (mit gesellschaftlichem Sprengstoff).

Die Wachablösung in der Führungsetage der SVP ist zu begrüßen. Allerdings sollten der frisch gekürte Obmann Achammer & Co. dem Volk endlich aufs Maul schauen, sich daran erinnern, warum diese Partei gegründet worden ist. Sie sollten das Volk über ihre Zukunft selbst entscheiden lassen und ein Selbstbestimmungsreferendum durchführen.

Wolfgang Schimank

Berlin, den 12.05.2014

*) In Deutschland und Österreich werden die Lehrer angehalten, beschönigende Wörter zu verwenden. Anstatt „lernunwillig“ heißt es dann „bildungsfern“. (siehe unter „Euphemismus“ und „Political Correctness“)

**) Das Wort „anscheinend“ drückt die Annahme aus, daß die Wirklichkeit dem Schein entspricht.

***) Als Potjomkinsches Dorf wird etwas bezeichnet, das fein herausgeputzt wird, um den tatsächlichen, verheerenden, Zustand zu verbergen.

****) Das neue staatliche Gesetz zur Parteienfinanzierung will diese Art der Finanzierung möglichst unterbinden und trifft damit in erster Linie die Selbstbestimmungsparteien Südtirols. (siehe „Der Dolchstoß“, „Neue Südtiroler Tageszeitung“ vom 02.02.2014)

Bücherempfehlungen:

Ermacora, Felix: Südtirol: Die verhinderte Selbstbestimmung, Wien 1991

Hölzl, Norbert: 1000 Jahre Tirol, Reith i. A. 2007, ISBN-13:9783853611272

Pernthaler, Peter: Die Identität Tirols in Europa, Wien 2007, ISBN-13: 9783211737538

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