Am 8. Juli 2015 fand im Österreichischen Nationalrat in Wien eine Abstimmung statt, mit welcher eine weltweit einzigartige Interpretation des ÖVP-geführten „Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres“ über das Wesen des Selbstbestimmungsrechts der Völker angenommen wurde. Demnach sei das Recht der Südtiroler auf Selbstbestimmung bereits durch die laufend gehandhabte autonome Landesverwaltung verwirklicht.
Eine Initiative für das Selbstbestimmungsrecht
Am 20. November 2014 hatten der FPÖ-Südtirolsprecher Werner Neubauer und weitere Kollegen im Österreichischen Nationalrat den Entschließungsantrag 820/A (E) eingebracht, mit welchem die österreichische Bundesregierung zur Achtung und Wahrung des Selbstbestimmungsrechts auch im Sinne des Beschlusses des Südtiroler Landtages vom 9. Oktober 2014 hätte verpflichtet werden sollen. In dem Antrag hatte es weiter geheißen:
„… wird der Bundesminister für Europa, Integration und Äußeres zur Vermeidung von Doppeldeutigkeiten und Missverständnissen aufgefordert, in allen hinkünftigen weiteren Veröffentlichungen des Bundesministeriums für Europa, Integration und Äußeres klar festzuhalten , dass das Selbstbestimmungsrecht der Südtiroler bis heute nicht – auch nicht durch die bestehende Autonomie – verwirklicht ist.“
Ein Gegenantrag verdreht den Antrag in sein Gegenteil
Mit einem Gegenantrag versuchten die Abgeordneten Dr. Reinhold Lopatka (ÖVP), Mag. Andreas Schieder (SPÖ) und Mag. Christoph Vavrik („Neos“), den freiheitlichen Antrag zu entschärfen und inhaltlich in sein Gegenteil umzukehren:
„Entschließung betreffend Selbstbestimmungsrecht der Südtiroler:
Der Bundesminister für Europa, Integration und Äußeres wird aufgefordert, die österreichische Außenpolitik zur Unterstützung und Weiterentwicklung der Autonomie Südtirols weiterhin im Sinne der im Pariser Vertrag von 1946 verankerten Schutzfunktion für Südtirol und der Grundprinzipien des Selbstbestimmungsrechts gemäß Art. 1 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte auszurichten.“
Was damit in Wahrheit gemeint war, wurde in der ebenfalls beschlossenen Begründung zu dieser Entschließung unmissverständlich. Hier wurde der plebiszitäre Akt der Selbstbestimmung mit der laufenden behördlichen Verwaltungstätigkeit in Südtirol gleichgesetzt:
„Selbstbestimmung kann auf verschiedene Weise verwirklicht werden. Für Österreich besteht kein Zweifel, dass die Südtirol-Autonomie völkerrechtlich auch auf dem Selbstbestimmungsrecht beruht, das als fortbestehendes Recht von Südtirol in Form weitgehender Autonomie ausgeübt wird. Die Südtirol-Autonomie mit hohem Maß an Selbstgesetzgebung und Selbstverwaltung ist eine besonders gelungene Form der Selbstbestimmung.“
Dem hatten die Abgeordneten der SPÖ, der ÖVP, der „Grünen“ und der „Neos“ zugestimmt. Dagegen stimmten die Abgeordneten der FPÖ und des „Team Stronach“.
Beschluss im Nationalrat in Wien
Am 8. Juli 2015 wurde genau diese – das Selbstbestimmungsrecht in sein Gegenteil verkehrende – Entschließung auch durch den Nationalrat in Wien mit den Stimmen der ÖVP, SPÖ und der „Grünen“ und der „Neos“ angenommen.
Der FPÖ-Südtirolsprecher Werner Neubauer hat den Regierungsparteien ÖVP und SPÖ zu Recht vorgehalten, dass sie damit das bisherige in parlamentarischen Entschließungen festgehaltene Bekenntnis Österreichs zum Selbstbestimmungsrecht der Südtiroler verlassen haben.
Mit dieser Abstimmung hätten diese Parteien der absurden Interpretation des ÖVP-geführten Außenministeriums zugestimmt, wonach das Recht Südtirols auf Selbstbestimmung durch die die laufende Verwaltungstätigkeit von Beamten in einer teilautonomen Provinz bereits verwirklicht sei.
Der Wiener Beschluss war offenbar mit der SVP-Spitze abgesprochen
Wie aus politischen Kreisen aus Wien verlautet, soll das Abstimmungsverhalten von ÖVP und SPÖ vorher hinter den Kulissen mit der SVP-Spitze abgesprochen worden sein.
Tatsächlich hat der sogenannte „Südtirolsprecher“ der ÖVP, Hermann Gahr, in der Nationalratsdebatte bestätigt, dass der österreichische Außenminister Kurz (ÖVP) nahezu täglich telefonisch mit dem SVP-Parteiobmann Achammer in Kontakt stehe.
Das Thema Selbstbestimmung ist nicht erledigt
Der Südtiroler Heimatbund (SHB) stellt dazu fest, dass der Wiener Nationalratsbeschluss der SVP-Spitze zwar kurzfristig helfen wird, dem Thema Selbstbestimmung aus dem Weg zu gehen, er langfristig aber nur als Peinlichkeit und Lächerlichkeit in die Geschichte eingehen wird.
Wenn Rom – was zu befürchten ist – die Südtirol-Autonomie im Zuge zentralistischer Maßnahmen angreifen sollte, wird das Thema der Selbstbestimmung von selbst wieder auf die Tagesordnung kommen, auch wenn dies der vereinigten Abwehrtruppe von ÖVP, SVP und SPÖ nicht gefallen mag.
Roland Lang
Obmann des Südtiroler Heimatbundes (SHB)