Historisch gewachsene Orts- und Flurnamen sind wichtige Zeugen der Sprach- und Siedlungsgeschichte eines Gebiets. Nur scheinbar historische, sprich künstliche und aus nationalistischen Überlegungen heraus geschaffene Namen rücken die Sprach- und Siedlungsgeschichte bewusst in ein falsches Licht. Im Gebiet des heutigen Südtirols gilt dies für den Großteil der sogenannten „italienischen“ Namen. Diese stammen überwiegend aus der Feder des Welschtiroler Nationalisten Ettore Tolomei. Ab dem Jahr 1906 gebrauchte Tolomei für das im Einzugsgebiet der Etsch befindliche deutsche und ladinische Tirol den Begriff oder besser gesagt die Etikette „Alto Adige“ und versah diesen Tiroler Landesteil mit einer flächendeckenden, pseudoitalienischen Toponomastik. Dadurch sollte der Eindruck entstehen, dass dieses durch Italien zu annektierende, weil „unerlöste“ Gebiet kontinuierlich seit der Römerzeit flächendeckend von Romanen bzw. deren direkten Nachfahren, den Italienern besiedelt sei. Nun, Tirol war, wie viele andere Regionen, durchaus schon immer ein mehrsprachiges Land. Doch hat es eine flächendeckende Toponomastik für das Gebiet des heutigen Südtirols nie gegeben, und schon gar nicht war dieses sogenannte „Hochetsch“ flächendeckend italienisch.
Diese Tatsache spiegelt sich auch in den geografischen Namen wider. Im Italienischen finden wir historisch gewachsene geografische Namen in folgenden drei Fällen: 1. Für Gebiete, die schon vor 1918 einen beachtlichen Italieneranteil hatten, insbesondere im Bozner Unterland. 2. Für rein deutsch besiedelte Gebiete an der Sprachgrenze zum Italienischen. 3. Für Gebiete, die zwar nicht italienisch besiedelt, aber aufgrund ihrer Lage und Größe für die Italiener eine bestimmte Relevanz hatten, so dass diese Gebiete im Italienischen eigens benannt wurden. Freilich gab es schon vor der Annexion des „Alto Adige“ amtliche Ortsnamenquellen für Tirol. Die wichtigsten sind folgende (s. Anlage A).
Nun ist der Vorschlag der Süd-Tiroler Freiheit äußerst großzügig: Neben den deutschen und ladinischen Namen würden all jene italienischen Namen amtlich anerkannt, die aufgrund der drei genannten Kriterien bereits vor der Teilung Tirols in Gebrauch waren. Großzügig ist der Vorschlag auch deswegen, weil nicht alle dieser Namen in amtlichen Texten bezeugt sind. Einige wurden nur auf nicht amtlicher Ebene, und dies mitunter nur sporadisch, gebraucht (z. B. Appiano, Brennero, Brunico, Dobbiaco, Fortezza, Sterzen), andere dagegen sind nachweislich nur mündlich überliefert (z. B. Laives, Postal). Einen Sonderfall stellen die Heiligennamen dar: Es scheint eine kanzleisprachliche Tradition gewesen zu sein, Ortsnamen, die sich auf Heilige beziehen, in italienischen Texten zu übersetzen (z. B. San Giovanni in Ahrn, San Giacomo in Ahrn, San Pietro in Ahrn; aber auch Sant’Antonio für Sankt Anton am Arlberg oder San Giovanni für Sankt Johann bei Kitzbühel). Diese Übersetzung geschah unabhängig von der Frage, wie nahe die bezeichneten Orte zum italienischen Sprach- und Kulturraum liegen und ob diese Namen auch in der mündlichen Sprache gebraucht wurden. In einigen wenigen Fällen weicht der zu veramtlichende historische italienische Name vom heute amtlichen „italienischen“ Namen ab, weil letzterer eine Konstruktion bzw. Rekonstruktion Tolomeis darstellt und Tolomei den echten Namen nicht kannte bzw. nicht kennen wollte (z. B. Corné statt Cornedo; Nova Tedesca statt Nova Ponente; Sterzen statt Vipiteno; Terla statt Terlano; Oltemo statt Ultimo; Nova, Nova Ladina oder Nova Italiana statt Nova Levante; Ghirla statt Cornaiano; Curon statt Corona in der Gemeinde Kurtatsch).
Das ausschlaggebende Kriterium in diesem Vorschlag ist somit Folgendes: All diese Namen sind als geschichtlich gewachsen zu werten, denn sie sind, neben den deutschen und ladinischen Namen, schon vor Tolomei und außerhalb der faschistischen Namensdekrete bezeugt, sei es schriftlich, sei es mündlich, sei es als Endonym, sei es als Exonym (zur Liste insgesamt, siehe Anlage B). Insgesamt käme man beispielsweise auf 55 historisch gewachsene italienische Gemeindenamen. Speziell zur Darstellung der Namen auf der Ortstafel spricht sich die Süd-Tiroler Freiheit für folgende Regelung aus: In Gemeinden mit einem Minderheitenanteil von über 20 % sollte auf der Ortstafel der Name in der Sprache der Minderheit in derselben Schriftgröße wie in der Sprache der Mehrheit erscheinen, zumal es sich de facto um zweisprachige Gemeinden handelt. Vorrang hat freilich immer der Name in der Sprache der Mehrheit. Konkret bedeutet dies: 1. Wir haben fünf Gemeinden mit italienischer Mehrheit (davon hatten Branzoll, Leifers und Pfatten schon unmittelbar vor der Annexion des Gebiets des heutigen Südtirols eine italienische Mehrheit). 2. Wir haben elf Gemeinden mit deutscher Mehrheit und einem Italieneranteil von über 20 %. 3. Wir haben 92 Gemeinden mit deutscher Mehrheit und einem Italieneranteil von unter 20 %. 4. Wir haben acht Gemeinden mit ladinischer Mehrheit.
Was weder auf den Ortstafeln noch in amtlichen Texten erscheinen soll, sind jene von Tolomei willkürlich erfundenen, „übersetzten“ und damit nur scheinbar italienischen und faschistisch belasteten Namen, d. h. 61 Gemeinden müssten ohne italienischen Namen auskommen, weil es schlichtweg einen solchen nie gab und bis heute nicht gibt.
Und hiermit sind wir schon bei den wichtigsten Unterschieden des Vorschlages der Süd-Tiroler Freiheit zum SVP-Vorschlag. Auf drei Punkte zusammengefasst, sind diese Unterschiede folgende:
1. Der Vorschlag der Süd-Tiroler Freiheit lässt sich auf eine solide wissenschaftliche und historische Basis stellen und ist nicht faschistisch belastet. Dies ist beim Durnwalder-Vorschlag nicht der Fall. Durnwalder ignoriert das zu wahrende Prinzip der Authentizität und Historizität der Namen und die Richtlinien der Vereinten Nationen. Durnwalder verkennt die Intention der tolomeisch-faschistischen bzw. nur scheinbar italienischen Toponomastik. Diese bestand und besteht immer noch darin, die Sprach- und Siedlungsgeschichte dieses Teils von Tirol insofern zu verfälschen, als der Eindruck vermittelt werden sollte, es handle sich um ein Gebiet, das kontinuierlich seit der Römerzeit romanisch bzw. italienisch besiedelt sei. Wenn Durnwalder die sogenannte „Makrotoponomastik“ zweisprachig beibehalten möchte, dann würde er zweifellos dazu beitragen, dass das Bild von Südtirols Sprach- und Siedlungsgeschichte weiterhin verzerrt bleibt. Gerade diese sogenannte zweisprachige „Makrotoponomastik“ würde einem sofort ins Auge stechen: Die Südtiroler müssten sich weiterhin genötigt sehen, tagtäglich an all die tolomeisch-faschistischen Geschichtslügen erinnert zu werden, sie müssten sich weiterhin genötigt sehen, diese Falschnamen zu lesen, ja gar selbst zu gebrauchen! Und wenn Durnwalder meint, man habe sich mittlerweile an diese Namen gewöhnt, so spielt er nur Tolomei und dem faschistischen Regime in die Hände. Tolomei und das faschistische Regime legten es doch von Anfang an darauf an, dass man sich an diese nur scheinbar italienischen bzw. nur scheinbar historischen Namen gewöhnt, dass man sich bei deren Gebrauch nichts denkt und dass sie gar als „italienisches Kulturgut“ empfunden werden. Einen kulturhistorischen Anspruch haben diese Namen von Anfang an erhoben. Dieser Anspruch ist aber faschistisch belastet und Ausdruck von Sprachimperialismus!
2. Der Vorschlag der Süd-Tiroler Freiheit ist beispielgebend für die Gemeinden und die Privatbetriebe, denn das von Durnwalder forcierte Prinzip einer flächendeckenden Zweisprachigkeit in der Namengebung würde hinfällig. Zwar sollte laut Durnwalder-Vorschlag bezüglich der Frage der Zweisprachigkeit für die sogenannte „Mikrotoponomastik“ die Gemeinden zuständig sein. Doch es bliebe zu befürchten, dass die Gemeinden und Privatbetriebe dem Durnwalder-Modell folgen könnten und analog zur sogenannten „Makrotoponomastik“ auch die sogenannte „Mikrotoponomastik“ zweisprachig beließen bzw. durch weitere künstliche Übersetzungen zweisprachig machen würden. Die Gemeinden und die Privatbetriebe würden somit das vollenden, was Tolomei und das faschistische Regime begonnen und als Endziel ins Auge gefasst haben: Eine flächendeckende italienische Toponomastik bis, so Tolomei wörtlich, „all’ultimo casolare“.
3. Der Vorschlag der Süd-Tiroler Freiheit steht im Einklang mit den einschlägigen Vorgaben des Pariser Vertrages und des Autonomiestatuts – vorausgesetzt, man unterzieht sie einer wissenschaftlichen und faschistisch unbelasteten Interpretation. Durnwalders Vorschlag ist dagegen juristisch nicht gedeckt, denn: Eine Unterscheidung bezüglich der Frage der Zweisprachigkeit in der Ortsnamengebung je nach „Makrotoponomastik“ und „Mikrotoponomastik“ ist weder im Pariser Vertrag, noch im Autonomiestatut und auch nicht in der Verfassung vorgesehen. Zudem ist nirgends von den faschistischen Dekreten und somit von den Namenserfindungen Tolomeis die Rede; auch wird nirgends eine flächendeckende zweisprachige Ortsnamengebung oder durchgehende Übersetzung von Namen verlangt. Die „Gleichberechtigung der deutschen und italienischen Sprache in der zweisprachigen Ortsnamengebung“ (so laut Pariser Vertrag) und die „Verpflichtung zur Zweisprachigkeit in der Ortsnamengebung“ (so laut Autonomiestatut) kann also nicht generell gelten, sondern nur dort, wo sie zweisprachig ist, das heißt außerhalb des imperialistisch-nationalistischen Gedankenguts von Tolomei und außerhalb der faschistischen Dekrete!
Der Gesetzentwurf der Süd-Tiroler Freiheit sieht insgesamt gut 200 zwei- bzw. dreisprachige Orts- und Flurnamen vor und ist in jeder Hinsicht klar und nicht nur nach den bereits genannten wissenschaftlichen, historischen und juristisch stichhaltigen Kriterien ausgerichtet, sondern er würde auch wesentlich zu einem friedlichen, ehrlichen und faschistisch unbelasteten Miteinander der Volksgruppen beitragen. Gerade dieses friedliche Miteinander wird von allen politischen Gruppierungen angestrebt und nach oberflächlicher Prüfung gerne übereilt herbeigeredet. Von einem friedlichen Zusammenleben der Volksgruppen kann aber nur die Rede sein, wenn es von allen Seiten, auch von italienischer Seite, ehrlich gemeint ist, und wenn der Weg dorthin nicht ständig durch die Altlasten des Faschismus gebremst wird. Der Verzicht auf die faschistischen Relikte in diesem Land, zu denen zweifelsfrei als Herausragendstes die tolomeisch-faschistische bzw. pseudoitalienische Toponomastik gehört, sollte der Beitrag der Italiener zur Befriedung der Volksgruppen in Südtirol sein. Die Italiener hätten damit selbst den Schlüssel in der Hand, der ihnen den Weg zur unverfälschten Wesensart und Geschichte Tirols öffnen und der es Ihnen ermöglichen würde, sich mit diesem Südtirol zu identifizieren und darauf stolz zu sein.
Es bleibt zu hoffen, dass sich vor allem die Mehrheitspartei SVP endlich auf einen wissenschaftlichen, demokratischen und faschistisch unbelasteten Diskurs einlässt und dass auch die Grünen und die italienischen Parteien diesen Vorschlag als Chance für eine Annäherung zwischen den Volksgruppen erkennen, weil dadurch die toponomastische, apartheidsfördernde Mauer endlich abgebaut würde. So lange dies nicht passiert, kann ich nur sagen – und jetzt werde ich persönlich: „Alto Adige – ich schäme mich für dich“. Was ich mir aber wünsche, ist, dass am Ende auch die Italiener sagen können: „Sudtirolo – sono fiero di te“.
Cristian Kollmann