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70 Jahre Pariser Vertrag: Alcide Degasperi – ein europäischer Wendehals

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70 Jahre Pariser Vertrag: Alcide Degasperi – ein europäischer Wendehals

Im Hinblick auf das bevorstehende 70-Jahr-Jubiläum des sogenannten Gruber-Degasperi-Abkommens wird von Politik und Medien wieder einmal der Trentiner Politiker Alcide Degasperi hochgejubelt. Angeblich war Degasperi ein großer Europäer – tatsächlich war er ein großer europäischer Wendehals bzw. ein Virtuose des „trasformismo“, wie die italienische Politik diese beliebte Art des Seitenwechsels nennt.


Verschwiegen werden in den offiziellen Lobhudeleien vor allem die negativen Seiten Degasperis. Als er im Jahr 1900 zum Studium der Germanistik nach Wien ging, war er vom religiösen Milieu seiner Heimtstadt Trient bereits stark antisemitisch geprägt. In Wien hielt er dann auch Vorträge über den heiligen Simonino von Trient, der angeblich von Juden ermordet worden war. Er wurde zum glühenden Bewunderer des antisemitischen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger, den er als „campione cristiano che liberò Vienna dal giogo semita“ (christlicher Vorkämpfer, der Wien vom jüdischen Joch befreite) bezeichnete. [Degasperi: I cattolici trentini sotto l’Austria, I, S 44]. In seiner Zeitung „Il Trentino“ schrieb Degasperi 1906, dass man verhindern müsse, dass die Juden mit ihrem Geld die Christen versklaven. Trotz der schrecklichen Holocaust-Erfahrung war Degasperi auch 1945 immer noch Antisemit, wie der Sozialistenführer Pietro Nenni in seinen Tagebüchern [Diario della guerra fredda] bemerkt, wonach Degasperi dem linken Flügel des Partito d’azione „semitischen Geist“ vorgeworfen hat.

In seinen Wiener Jahren (ab 1900 als Student, ab 1911 als jüngster Abgeordneter des Reichsrates) war Degasperi ein überzeugter Österreicher bzw. Habsburg-Anhänger. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges favorisierte er zunächst noch statt der italienischen Neutralität einen gemeinsamen Kampf von Österreich/Ungarn und Italien gegen die verachteten Slawen (Artikel am 13. August 1914 in der Zeitung „Il Trentino“). Anfang 1915, als durchsickerte, dass Österreich auf Druck Deutschlands das italienischsprachige Welschtirol freiwillig an Italien abtreten könnte, beschwor er in Gesprächen mit seinen christlichsozialen Freunden und in einer Reichtstagsrede mit Tränen in den Augen das Vaterland Österreich, die Welschtiroler nicht im Stich zu lassen und an Italien auszuliefern. Gleich darauf fuhr er im März 1915 im Auftrag seines väterlichen Freundes, des italienisch-nationalistischen Trientner Bischofs Celestino Endrici nach Rom, um im Gespräch mit Außenminister Sonnino zu erkunden, was Endrici von Italien erhalten würde wenn er sich auf die italienische Seite stellte.

Im Oktober 1918 sprach sich Degasperi dann erstmals offiziell für den Übergang Welschtirols an Italien aus, und nach Kriegsende wurde er im Handumdrehen zum italienischen Supernationalisten. Noch im November 1918 schrieb er in seiner jetzt „Il nuovo Trentino“ genannten Zeitschrift, dass das Trentino von der österreichischen Tyrranei befreit sei und nun die Alpengrenze (am Brenner) gegen die germanischen Barbaren verteidigen werde. Beim Gründungskongress des Partito Popolare Italiano im Juni 1919 in Mailand legte er noch eines drauf und sprach vom „Trentino liberato da una sovrastruttura germanico-feudale imposta da secoli di oppressione e ritornato nella grande famiglia italiana“ (Trentino, das von einem durch Jahrhunderte der Unterdrückung auferlegten germanisch-feudalem Überbau befreit wurde und in die große italienische Familie zurückgekehrt ist). Im Buch „Il martirio del Trentino“, das er 1919 gemeinsam mit Ettore Tolomei und anderen Nationalisten herausgab, schilderte Degasperi das Schicksal der vom Kriegsgebiet nach Innerösterreich evakuierten Trentiner in den schwärzesten Farben, während ein anderer Beitrag die Lage der nach Italien deportierten Trentiner unter Verdrehung der Tatsachen als ausgezeichnet lobte. In seiner Erstlingsrede im 1921 neu gewählten italienischen Parlament warnte Degasperi davor, den Südtirolern zu viel Autonomie zu gewähren, da dies zu ihrer Abkapselung führen und die „infiltrazione naturale e pacifica dello Stato e della Nazione“ (natürliche und friedliche Infiltration des Staates und der Nation = Assimilierung) verhindern würde. Zudem stilisierte er seinen einstigen Intimfeind Cesare Battisti zum Märtyrer des Trentiner Freiheitskampfes hoch.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es Degasperi vor allem um die Selbstinszenierung Italiens als Staat, der sich dank der hohen moralischen Qualität der Italiener und ihrer religiösen Verwurzelung selbst vom Faschismus befreit habe, im Gegensatz zum barbarischen, neuheidnischen Deutschland. Dazu gehörte auch Degasperis Kampf um den Erhalt Südtirols für Italien, den er nicht nur aus innenpolitischen Rücksichten, sondern auch aus persönlicher Überzeugung führte. Bereits im Dezember 1944 denunzierte Degasperi in einem Brief an den Vizepräsidenten der alliierten Kommission, Admiral Stone, die Südtiroler als Nazis und warnte vor einer „Entitalienisierung“ Südtirols. Als Außenminister wies er in Briefen an die italienischen Botschafter darauf hin, dass die Brennergrenze als „klassisches Einfallstor der Barbaren“ unbedingt gesichert werden müsse.

Dass selbst seine eigenen Landsleute, die italienischsprachigen Welschtiroler, auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges zu einem großen Teil nichts von Italien wissen wollten, ignorierte Degasperi, auch dass der Movimento Separatista Trentino sich mit der Forderung nach Rückkehr zu Österreich in einer Bittschrift direkt an die Alliierten wandte und Degasperis Geburtsort Pieve Tesino im Februar 1946 mit entsprechenden Flugblättern überschwemmte. Es brauchte die Exkommunikationsdrohungen von Bischof Endrici, um die Anhänger des österreichischen Gesamttirol im Trentino weitgehend auszuschalten.

Die Entscheidung über die Belassung Südtirols bei Italien fiel schließlich durch Beschluss der Großmächte. Italien und Österreich hatten nicht mitreden dürfen, aber die vollmundigen Autonomieversprechungen Degasperis hatten die Großmächte sicher beeindruckt. Dass es Degasperi mit diesen Versprechungen überhaupt nicht ernst gemeint hatte, zeigte sich in der schwammigen, nach Belieben interpretierbaren Formulierung des mit dem österreichischen Außenminister Gruber auf Druck der Alliierten abgeschlossenen Abkommens und an der absolut fehlenden Bereitschaft, zumindest dieses Abkommen zu respektieren.

Hartmuth Staffler

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